1957, im 75. Jahr ihres Bestehens, reisten die Berliner Philharmoniker und ihr damaliger Chefdirigent Herbert von Karajan zum ersten Mal nach Japan. Wie aus den Speisekarten der Bordverpflegung hervorgeht, gab es auf dem 45-stündigen Flug spezielle Gerichte wie »À la Furtwängler«, »Philharmonie Gemüse« und »Kartoffeln Karajan«. Wie diese Speisen wohl geschmeckt haben?
An die Ankunft am 31. Oktober in Japan erinnerte sich der Erste Konzertmeister Michel Schwalbé: »Als wir auf dem Flughafen Haneda gelandet waren, übertraf der Empfang der Japaner alle Erwartungen. Sobald wir aus dem Flughafen kamen, waren wir von so vielen Fans umgeben, dass wir uns kaum bewegen konnten.« Drei Tage später dirigierte Karajan das erste Konzert mit Beethovens Fünfter Symphonie, das von der japanischen staatlichen Sendeanstalt NHK, dem Veranstalter der Tournee, live im Radio und Fernsehen übertragen wurde. Es brachte die Berliner Philharmoniker erstmals in die japanischen Wohnzimmer. Auf dieser Tournee gaben die Berliner Philharmoniker 16 Konzerte, von Sendai im Norden bis Fukuoka im Süden. Damals, als es noch keinen »Shinkansen« (Hochgeschwindigkeitszug) gab, dauerte die Zugfahrt von Nagoya nach Fukuoka einen ganzen Tag.
Die Verbindung zwischen Japan und den Berliner Philharmonikern begann jedoch nicht erst 1957. »Endlich begrüßen wir die lang erwarteten Berliner Philharmoniker. Was für eine Freude! Besonders für uns, ›der alte Hochschüler[sic]‹, die wir die deutsche Musik als unsere geistige Heimat vom Herzen lieben, muss dies eine unermessliche Freude sein«, schrieb Kosaku Yamada, einer der ersten japanischen Komponisten im westlichen Sinne, in einem Essay für das Programmheft dieser ersten Konzertreise.
Yamada studierte bereits vor dem Ersten Weltkrieg Musik in Berlin, das bis etwa 1940 eines der wichtigsten Studienorte für Japaner war. Viele Musiker, wie Yamada, konnten dort täglich Konzerte der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von renommierten Dirigenten wie Wilhelm Furtwängler oder Richard Strauss hören. Von 1924 bis 1940 dirigierte Hidemaro Konoe, der Gründer des Neuen Symphonieorchesters (das heutige NHK-Symphonieorchester), als erster Japaner die Berliner Philharmoniker und gab zu Hause seine Erfahrung mit dem Orchester weiter.
Nach ihrem zweiten Besuch in Japan im Jahre 1966 reisten die Berliner Philharmoniker regelmäßig nach Japan. In den damaligen Programmheften findet sich stets Werbung für die Schallplatten von Karajan und den Berliner Philharmonikern. »Karajan und die Berliner Philharmoniker« galt in Japan als Synonym für klassische Musik. In den 1980er-Jahren ging es Karajan gesundheitlich immer schlechter. Ein Agenturmitarbeiter der Tournee von 1984 erinnert sich an folgende Szene hinter der Bühne: » Als Maestro von Karajan mit Wolfgang Ringer, dem Stage Manager, am Arm die Bühne betreten wollte, signalisierte er mir mit den Augen, ob ich ihm helfen könnte. So hielt ich auch einen Arm des Maestros. Der Weg zum Pult war sehr weit. Herr von Karajan wollte wahrscheinlich jede körperliche Anstrengung vermeiden, um sich auf die Musik konzentrieren zu können.«
Die Japan-Tournee 1986 sagte Karajan aus gesundheitlichen Gründen ab. Für ihn sprang sein Schüler Seiji Ozawa ein. Karajan besuchte Japan zum letzten Mal 1988 und dirigierte erstmals in der Suntory Hall in Tokio, an deren Bauplanung er beteiligt war. Sein Name steht heute noch auf dem Platz vor dem Suntory Hall.
Karajans Nachfolger Claudio Abbado leitete die Japan-Tourneen in den 1990er-Jahren: 1992 führten die Philharmoniker einen Brahms-Zyklus auf. Bei den folgenden Japan-Tourneen standen Symphonien Gustav Mahlers auf dem Programm, die Karajan kaum aufgeführt hatte. Beim letzten Japan-Besuch Abbados im Herbst 2000 wurde Wagners Tristan und Isolde im Tokyo Bunka Kaikan aufgeführt. Ein Ereignis, von dem die japanischen Fans noch heute schwärmen. Abbados Nachfolger, Sir Simon Rattle, dirigierte zwischen 2004 und 2017 insgesamt sieben Tourneen in Japan. Neben den gängigen symphonischen Werken führte Rattle auch Werke zeitgenössischer Komponisten wie Thomas Adès, Toshio Hosokawa und Unsuk Chin auf.
Obwohl die Japaner heute Dank der Digital Concert Hall wöchentlich Aufführungen der Berliner Philharmoniker hören können, ist eine Konzertreise doch etwas Besonderes. Sie bietet dem Publikum die Gelegenheit, die Berliner Philharmoniker live zu erleben. Die Freundschaft zwischen Japan und den Berliner Philharmonikern wird auch durch Auftritte verschiedener Ensembles des Orchesters, durch Workshops von Orchestermitgliedern sowie durch den Austausch mit Amateurorchestern gepflegt. Nicht zu unterschätzen die Rolle, die frühere und aktive Mitglieder wie Kunio Tsuchiya, Toru Yasunaga, Kotowa Machida, Naoko Shimizu, Daishin Kashimoto und Marlene Ito bei diesem kulturellen Austausch spielten bzw. spielen.
Unschätzbar auch das Engagement von Seiji Ozawa, der bisher ca. zweihundert Mal mit den Philharmonikern aufgetreten und Ehrenmitglied des Orchesters ist. Beim ersten Japan-Besuch mit dem derzeitigen Chefdirigenten Kirill Petrenko im November 2023 gibt es neben Aufführungen des deutsch-österreichischen Kernrepertoires auch das Projekt »Be Phil Orchestra«, ein Orchester aus japanischen Amateurmusiker*innen und Mitgliedern der Berliner Philharmoniker. Lassen Sie sich überraschen!