Die Georgier*innen verzauberten mit ihrer Lebensfreude nicht nur Igor Strawinsky und den lieben Gott, sie sprechen auch eine der ältesten lebendigen Kultursprachen der Welt mit einem ganz eigenen Alphabet. Aber nicht nur die Tradition wird am Kaukasus groß geschrieben: Das kleine Land am »Balkon Europas« hat eine ebenso lebhafte zeitgenössische Musikszene. Damit Sie schon vor dem Europakonzert am 1. Mai einen kleinen Eindruck davon bekommen, haben wir 11 (musikalische) Fakten über Georgien für Sie zusammengestellt.
In Georgien kursiert ein Gründungsmythos, der gerne und voller Stolz erzählt wird. Er geht so: Als Gott die Völker der Erde zusammenrief, um die Länder zu verteilen, erschienen die Georgier*innen nicht. Warum? Sie feierten mal wieder ein Fest. Wein, Tanz und Gesang – die Zeit vergeht eben wie im Flug, wenn man sich amüsiert. Doch als Gott später von ihrer Lebensfreude und ihrem Gesang hörte, war er so angetan, dass er ihnen das Land zugestand, das er eigentlich für sich reserviert hatte: Georgien, das Paradies?
Feiern und Feste sind bis heute wichtig – Gesang natürlich auch. Ein typisches Fest läuft nach einem strikten Ritual ab. Die Festtafel ist reich gedeckt, zum Beispiel mit Chatschapuri, einem Pide-ähnlichen Hefe-Schiff mit Käsefüllung, oder Chinkali, gefüllte Teigtaschen in Zwiebelform. Dazu wird Wein gereicht – selbstredend, als Ursprungsland des Weinbaus. Die zentrale Figur ist der Tamada, der Trinkspruchleiter. Ohne ihn kein Trinkspruch, ohne Trinkspruch kein Fest. Zwischen den Trinksprüchen wird viel getanzt und gesungen, zum Beispiel »Sakartvelo Lamazo – Oh, Du schönes Georgien«.
Der Gesang aus Georgien verzauberte nicht nur Gott, sondern auch Igor Strawinsky: »Was die Georgier singen, ist wichtiger als alle Neuentdeckungen der modernen Musik. Es ist unvergleichlich und einfach. Ich habe nie etwas Besseres gehört!« Diesem Urteil Strawinskys würde wohl auch die Unesco-Jury kaum widersprechen. 2001 nimmt sie den polyphonen Gesang Georgiens in die Liste der »Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit« auf.
Mit Grenzen ist es ja immer so eine Sache: Je nachdem, wo man sie zieht, wird Georgien entweder Europa oder Vorderasien zugerechnet. Passenderweise bezeichnet die Bevölkerung selbst ihr Land als »Balkon Europas« – noch dran, aber schon draußen. Auf diesem Balkon, nicht größer als Bayern, leben in etwa so viele Menschen wie in Berlin. Und doch ist er so vielseitig wie ein ganzer Kontinent: 7 Klimazonen von alpin bis tropisch, 19 historische Regionen, bis zu 15 unterschiedliche Musiktraditionen.
Was aber hat es nun auf sich mit der georgischen Musiktradition? Bekannt ist das Land vor allem für seinen polyphonen, das heißt mehrstimmigen Gesang. Grundsätzlich werden drei Ausprägungen unterschieden: In Kachetien und Ostgeorgien singen zwei Stimmen über einem tiefen Brumm-Bass, in den westlichen Regionen improvisieren drei Stimmen miteinander. Besonders komplex ist die Polyphonie im nördlichen Swanetien. Aus dieser Region stammt das Chakrulo-Lied, das bei Zeremonien und Festen gesungen wird. Hier wird auch gejodelt, in Georgien Krimantschuli genannt, und ein »Hahnenschrei« von einer besonders hohen männlichen Stimme ausgestoßen.
Ebenso einzigartig wie der polyphone Gesang sind auch die theoretischen Grundlagen der Musik. Wo wir den Halbton als kleinstes Intervall kennen, aus dem sich das Dur-Moll-System ableitet, unterscheidet die georgische Musik auch Viertel- und sogar Achteltöne, wodurch sich zusätzliche Ausdrucksmöglichkeiten ergeben. Ein georgisches Lied strebt am Ende in eine Quinte oder ein Unisono, in dem alle Stimmen den gleichen Ton singen, was »im Zuhörer die Erfahrung absoluten Eins-Seins mit der Welt« erzeugt.
Wenn die einzelnen Stimmen des polyphonen Gesangs aufeinandertreffen, mag das dissonant klingen – zumindest für unsere Ohren. Die georgische Musik lebt von dieser Reibung. Doch es ist eine Dissonanz, »die nicht schmerzt und die nicht nach Auflösung drängt«, erinnert sich der Schriftsteller Martin Mosebach nach seinem Georgienaufenthalt, es ist »eine Dissonanz von unerschöpflichem Reiz, den ich wie einen Kitzel wieder und wieder spüren wollte«.
Auch in der Musik der Georgischen Orthodoxen Kirche, der offiziell gut 80% der Bevölkerung angehören, spielt der polyphone Gesang eine zentrale Rolle. Der Grund ist naheliegend: Es gibt keine Orgel und keine Orchestermusik. Anders als in der georgischen Volksmusik, wo meist eine führende Stimme heraussticht, sind die drei Stimmen in der Kirchenmusik in der Regel gleichberechtig. Drei gleichberechtigte Stimmen in der Kirche? Genau: Sie stehen symbolisch für die Heilige Dreifaltigkeit.
Im 20. Jahrhundert beginnen georgische Musiker*innen, sich auch für westliche Kunstformen zu interessieren – unter anderem für die Oper. 1887 wird ein erstes Opernhaus in der Hauptstadt Tbilissi eröffnet – der Vorgängerbau der Oper, in der wir am 2. Mai ebenfalls ein Konzert geben. 30 Jahre später die erste georgische Oper uraufgeführt: Abessalom und Eteri von Sakaria Paliaschwili. Gesungen wird natürlich auf Georgisch, eine der ältesten lebendigen Kultursprachen der Welt mit einem ganz eigenen Alphabet aus 33 kunstvoll geschwungenen Buchstaben.
Mailand, Paris, Sao Paolo: Der erste international bekannte Opernstar aus Georgien ist Philimon Koridze (1829–1911). Als er eines Tages nach Georgien reist, bitten ihn einige Bischöfe, das bisher nur mündlich weitergegebene georgische Liedgut erstmals niederzuschreiben, denn: Unter der zaristischen Herrschaft Russlands ist die georgische Kultur bedroht, droht verbannt zu werden. Koridze nimmt sich dieser Aufgabe an. Er lässt seine Opernkarriere links liegen, reist durch das Land, um die georgischen Lieder für kommende Generationen zu dokumentieren – und endet in großer Armut. Was für ein Einsatz!
Auch in unserer Zeit schaffen es immer wieder georgische Musiker*innen ganz nach oben. Allen voran natürlich unsere Artist in Residence Lisa Batiashvili oder die Pianistin Khatia Buniatishvili.
Dass die traditionelle Musik Georgiens keineswegs altbacken und verstaubt ist, zeigt das Trio Mandili: Drei junge Frauen streifen mit nichts als der dreisaitigen Panduri, einem Smartphone und einem Esel durch die Lande, singen georgische Lieder und erreichen damit bei Youtube ein Millionenpublikum.
Neben der klassischen und der traditionellen Musik ist Georgien heute ein Zentrum für elektronische Musik. Unter Regie der Produzentin Natalie Beridze ist Tbilissi ein richtiges Künstlerinnenkollektiv erwachsen mit Namen wie Ani Zakareishvili, sTia, Eto Gelashvili, Dea Bezhuashvili.