Auf unserer Festival-Tour steht ein Werk auf dem Programm, dass neben einem absoluten Klassik-Hit reichlich Entdeckungen bietet: Bedřich Smetanas Mein Vaterland, eine musikalische Bildergalerie tschechischer Mythen und Landschaften. Natürlich kennt fast jede und jeder den zweiten Satz, Die Moldau. Aber die anderen Abschnitte? Sind genau so hörenswert! Und erzählen zwischen den Zeilen von der Selbstfindung eines ganzen Volkes. Hier das Wichtigste in Kürze.
Prag am 5. November 1882 – erstmals wird Smetanas Mein Vaterland komplett aufgeführt. Einzelne Sätze waren bereits im Konzert zu hören gewesen, auch Notenausgaben kursierten. Das Publikum ahnt also, was für ein Meisterwerk es erwarten darf, die Spannung ist mit Händen zu greifen: »Seit der Eröffnung des Nationaltheaters herrschte in keiner Versammlung der Tschechen eine so gehobene, feierliche Stimmung«, heißt es in einem Bericht. Und die Erwartungen werden nicht enttäuscht: Smetana erlebt mit der Uraufführung einen beispiellosen Triumph.
Der Begründer der tschechischen Nationalmusik wird doch sicher ein Tscheche sein! Oder doch nicht? Bei Smetana müsste die Antwort wohl lauten: ganz klares Jein. Denn Böhmen ist ein Vielvölkerstaat, Deutsche und Tschechen bilden die beiden größten Bevölkerungsgruppen. Und Smetana fühlt sich bis zu seinem 24. Lebensjahr quasi als Deutscher. Er nennt sich Friedrich, spricht kaum Tschechisch. Das ändert sich erst mit einem einschneidenden Erlebnis, sowohl für den Komponisten als auch für die böhmische Nation: dem Prager Pfingstaufstand von 1848.
Wie kurz zuvor die Polen und Ungarn streben auch die Tschechen nach nationaler Eigenständigkeit. Und dafür gehen sie auf die Straße, demonstrieren, revoltieren. Doch die Revolution wird blutig niedergeschlagen. Die Bilanz: 43 Tote und 63 Verletzte. Friedrich Smetana ist mittendrin, erlebt die Ereignisse aus nächster Nähe und wird ein anderer Mensch. Er solidarisiert sich, möchte tschechisch sein, nennt sich von nun an Bedřich und schreibt erste tschechische Lieder. Er ist jetzt Teil der Bewegung: Böhmen soll frei sein – der Nährboden für die spätere Komposition.
In der böhmischen Mythologie spielen Frauen eine Hauptrolle. Die Burg Vyšehrad, der Smetana den ersten Satz seiner Tondichtung widmet, ist das Zuhause der Fürstin Libuše, »Mutter der tschechischen Nation«. In einer Vision sagt sie die Gründung Prags voraus und prophezeit den Helden ihres Volkes eine rosige Zukunft. Nach dem Tod der Libuše entbrennt ein Kampf um die Herrschaft Böhmens. Eine der Protagonist*innen: Šárka aus dem Gefolge der Libuše. Šárka und ihr Frauenheer besiegen ihre männlichen Feinde durch eine List, die Smetana im dritten Satz vertont: Sie verführt mit ihrer Schönheit den gegnerischen Heerführer und macht ihn und seine Kämpfer betrunken. Schließlich stürmen die Frauen auf die überrumpelten Männer los – ein blutrünstiges Gemetzel bricht sich Bahn.
Zwischen diesen beiden Sätzen steht der Ohrwurm dieser symphonischen Dichtung, ein Stück, das in jedem Best-of-Klassik vertreten ist und plastisch den Lauf der Moldau nachzeichnet. Dabei vertont Smetana das Fließen mit Motiven, die an Sprudeln und Plätschern, an Wogen und Wellen erinnern – Tonmalerei, wie sie im Lehrbuch steht. Auf den Wogen der Moldau verbreitet sich der Name Smetana wie eine Sturmflut in alle Ecken der Welt. Doch für den mit einem Tinnitus geschlagenen Komponisten ist es ein Erfolg mit bitterem Beigeschmack. Am Ende seines Autografs notiert er: »Ich bin völlig taub.« Seinen größten Hit wird er selbst nie hören.
Umso beliebter ist das Werk in der tschechischen Bevölkerung – und das nachhaltig. Als Soundtrack der »nationalen Wiedergeburt« komponiert, wird es in Tschechien bis heute zu unterschiedlichsten Anlässen gespielt. Der Staat nutzt es als Festaktmusik, das Radio als Pausenzeichen. Im KZ Mauthausen erklangen die Melodien als Zeichen des Protests, im Prager Frühling als Zeichen der Hoffnung. Mein Heimatland: ein Zeichen des Kampfes, des Triumphs, der nationalen Eigenständigkeit.
Wer heute nach Tschechien reist, kommt an Smetana nicht vorbei. In vielen Städten stehen überlebensgroße Smetana-Standbilder, in Prag wurden ihm ein Museum und ein Konzertsaal gewidmet. Ganz wichtig auch: das Festival Prager Frühling, das alljährlich am 12. Mai, Smetanas Todestag, mit Mein Vaterland eröffnet wird (in diesem Jahr gespielt von den Berliner Philharmonikern und Kirill Petrenko). Und auch am Sternenhimmel ist Smetana zu finden: durch einen Asteroiden und einen Merkur-Krater, die seinen Namen tragen.