Kann man noch Neues in einem Werk entdecken, das fast jede*r schon im Ohr hat? Diese Frage klären wir mit Jan Lisiecki. Der Pianist spielt mit den Berliner Philharmonikern und Dirigent Tugan Sokhiev Beethovens Drittes Klavierkonzert.
Was macht für Sie den Kern von Beethovens Drittem Klavierkonzert aus?
Beethovens Drittes Klavierkonzert steht in c-Moll, einer Tonart, die von Natur aus ziemlich dunkel ist. Beethoven verwandelt diese eher düstere Musik am Ende in C-Dur – in Schönheit, in Freude. Diese Wandlung geschieht allmählich, über drei Sätze hinweg. Es ist eine schöne Reise. Wir haben einen heiteren zweiten Satz. Der Beginn des Rondos, des dritten Satzes, ist recht energisch. Im ersten Satz gibt es eine phänomenale Kadenz, die von Beethoven selbst geschrieben wurde; dies ist Musik an der Schwelle zur Romantik. Beethoven bewegt sich noch innerhalb der klassischen Musik, aber er überschreitet die Grenzen – wie er es immer zu tun pflegte. Und es ist ein Vergnügen, das zu erforschen.
Ist es eine besondere Herausforderung, ein Stück aufzuführen, das so bekannt ist?
Musik aufzuführen, die mir, den Musiker*innen im Orchester und dem Dirigenten sowie dem Publikum bekannt ist, ist einerseits eine Herausforderung. Es ist auf jeden Fall eine große Verantwortung. Aber es ist auch eine wunderbare Gelegenheit, weil man die Schichten der Tradition abtragen kann, die sich im Laufe der Jahre angesammelt haben. Einige Aufführungspraktiken sind recht weit weg von der Partitur. Man kann Dinge wiederentdecken, die ursprünglich sind – Dinge, von denen ich für mich annehme, dass der Komponist sie so beabsichtigt hat. Tugan Sokhiev teilt diese Vision. Ihm ist es sehr wichtig, Beethovens Intentionen so zu respektieren, wie sie in der Partitur niedergeschrieben sind, und sich nicht von Emotionen leiten zu lassen. Das bedeutet dann, dass die Musik für sich selbst spricht. Und ich denke, diese Ursprünglichkeit hat eine wunderbare Wirkung auf das Publikum.
Entdecken Sie noch neue Dinge in dem Stück?
Ich entdecke immer neue Elemente in der Musik. Das ist das Schöne an diesem Beruf. Perfektion kann man nicht erreichen, die gibt es nicht. Man ist immer auf der Suche nach der nächsten Sache, der nächstbesten Idee, die einem zu Hause bei der Arbeit an der Musik kommt. Manchmal kommt sie in der Probe, aber meistens kommen diese brillanten Ideen im Konzert, wenn etwas zufällig passiert. Und natürlich, und das ist das Wichtigste, lasse ich mich auch von meinen Kolleg*innen auf der Bühne inspirieren, die ebenfalls neue Ideen haben. Wenn das passiert, erschaffen wir etwas, in diesem Moment. Musik ist eine lebendige Kunst, und das bedeutet, dass man sie immer wieder neu entdecken muss.