Wenige andere Länder besuchen die Berliner Philharmoniker auf ihren Konzertreisen so häufig wie die USA. Die amerikanischen Fans sind besonders treue Unterstützer und Anhänger des Orchesters. Das war nicht immer so. Zum Auftakt der diesjährigen USA-Tournee, der zweiten mit Chefdirigent Kirill Petrenko, blicken wir zurück auf die Amerika-Reisen der Berliner Philharmoniker.
Als die Berliner Philharmoniker im Februar 1955 zu ihrer ersten Tournee durch die USA und Kanada aufbrachen, lagen hinter den Organisatoren dieser Reise bange, verzweiflungsvolle und aufreibende Wochen. Fast wäre das Unternehmen gescheitert. Wilhelm Furtwängler, der Chefdirigent des Orchesters, auf den die amerikanische Musikwelt voller Neugier wartete, war im November 1954 gestorben und ein adäquater »Ersatz« musste auf die Schnelle gefunden werden. Am geeignetsten erschien den Philharmonikern der damals 46-jährige Herbert von Karajan, der sich auch bereit erklärte einzuspringen. Er sah darin seine Chance, sich als Nachfolger Furtwänglers für das Amt des philharmonischen Chefdirigenten zu qualifizieren.
Die Reise war ein Wagnis: Zehn Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs waren die Schrecken des Nazi-Regimes noch zu präsent und den Auftritt des ehemaligen NSDAP-Mitglieds Karajan empfanden die amerikanische Musikergewerkschaft sowie jüdische Organisationen als Affront. Ob die Reise vor diesem Hintergrund erfolgreich sein würde, schien fraglich. Sollte man das Risiko eingehen? Doch die Verantwortlichen, allen voran André Mertens, Vizepräsident der amerikanischen Konzertagentur Columbia Artists Management, setzten alles daran, die Tournee zu realisieren. Schon bei ihrem ersten Konzert in der Constitution Hall in Washington überzeugten die Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan Publikum und Presse von ihren künstlerischen Qualitäten. »Selbst bei schnellem und leisem Spiel bleibt der Klang immer voll. Die Streicher haben einen präzisen, glühenden Ton von seltener lebendiger Wärme. Die Holzbläser spielen nie zu laut«, schwärmte die Washington Post. Als hervorragendste Eigenschaft rühmten die Kritiker fast überall die klangliche und geistige Homogenität des Orchesters.
Von Musikern und Dirigent verlangte diese Tournee das Äußerte: Innerhalb von fünf Wochen gaben sie 26 Konzerte in 21 amerikanischen und kanadischen Städten. Ihre Konzertprogramme stellten sie aus einem Pool von 20 Kompositionen zusammen, angefangen mit Werken von Händel über Haydn, Mozart, Beethoven, Brahms, Schumann, Tschaikowsky, Mahler, Berlioz und Strauss bis hin zu Blacher und Barber.
Die Musiker reisten aus finanziellen Gründen mit Bussen, während Trucks die Instrumente transportierten. Doch die Mühe lohnte sich. Diese Reise legte den Grundstein für die Begeisterung, die dem Orchester bis heute in den USA und Kanada entgegengebracht wird. Und mehr noch. Die Tournee hatte eine politische Dimension: Sie galt als Brückenschlag für eine freundschaftliche Verständigung zwischen Deutschland und den USA.
Von nun an kamen die Berliner Philharmoniker regelmäßig – im Schnitt alle drei bis fünf Jahre. 1986, Herbert von Karajan feierte sein 30. Jahr als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, stand eine Welttournee an, die nicht nur in die USA, sondern auch nach Japan führen sollte, wo die Philharmoniker als erstes ausländisches Orchester eingeladen waren, in der neueröffneten Suntory Hall in Tokio aufzutreten.
Obwohl der Tourneeplan mit Rücksicht auf den gesundheitlichen Zustand Karajans relativ locker gehalten war – acht Konzerte in drei Wochen – , mussten die Organisatoren wieder sämtliche Register ihres Könnens ziehen: Dieses Mal sagte Karajan kurzfristig wegen Krankheit ab und es wurde fieberhaft nach Einspringern gesucht.
»Wird es möglich sein, die Philharmoniker ohne Karajan zu verkaufen?« fragte der Kritiker des Boston Globe. Unter der Leitung von Seiji Ozawa und James Levine, die sich die Aufgabe teilten, bewies das Orchester, dass es auch ohne Mitwirkung des legendären Maestros überzeugt.
Nach einem New Yorker Gastspiel, das das Orchester 1991 zum 100. Geburtstag der Carnegie Hall mit Bernard Haitink am Pult gegeben hatte, reiste es im Oktober 1993 erstmals mit seinem neuen Chef, Claudio Abbado, in die USA, und erstmals seit 32 Jahren gastierten die Philharmoniker wieder im kanadischen Toronto – mit einem reinen Mahler-Programm.
Die Erwartungen waren hoch, so hoch wie die Schwarzmarktpreise für die Karten. Natürlich würde der »Neue« an Karajan gemessen werden. Die Kritik reagierte unterschiedlich, es gab enthusiastische Stimmen, aber auch zurückhaltende, man bemerkte jedoch die künstlerische Aufbruchstimmung und konstatierte, der Klang des Orchesters besitze mehr Wärme als unter Karajan. 1996 und 1998 gastierten die Philharmoniker mit Abbado in New York, 1999 und 2001 ging es mit ihm nach New York, Boston, Chicago, Ann Arbor und (nur 2001) Costa Mesa. Die Tournee 2001 stand ganz unter dem Eindruck der Anschläge vom 11. September und das Orchester gestaltete sie zu einer Sympathiekundgebung für das geschockte Land.
In der Ära von Sir Simon Rattle waren die Berliner Philharmoniker in den USA ebenfalls gerngesehene Gäste – auch wenn Rattle eine ganz andere Programmatik verfolgte: weniger deutsch-romantisches Repertoire, dafür mehr Zeitgenössisches. Nach der letzten Tournee mit ihm 2016 warteten die Klassikfans in New York, Boston, Chicago, Ann Arbor und Naples 2022 gespannt auf das Debüt des neuen Chefdirigenten Kirill Petrenko. Auch er setzte neue Akzente: Mit Andrew Normans Orchesterwerk Unstuck und Erich Wolfgang Korngolds Symphonie Fis-Dur rückte Petrenko zwei Komponisten ins Rampenlicht, die in Amerika geboren wurden oder dort lange gewirkt haben. Zudem glänzte der aus North Carolina stammende Erste Konzertmeister Noah Bendix-Balgley als Solist in Mozarts Violinkonzert Nr. 1.
Dieses Jahr folgt nun die zweite USA-Tournee mit Kirill Petrenko. Im Tour-Blog können Sie diese (fast) in Echtzeit mitverfolgen.