Autor*in: Marvin J. Deitz
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Sergej Rachmaninow | Bild: Library of Congress, Prints & Photographs Division

Aller guten Dinge sind drei? Nicht, wenn es um Sergej Rachmaninow und sein Verhältnis zu den USA geht. In drei Etappen verschlägt es ihn in die »Neue Welt« – davon zweimal unfreiwillig und einmal nur widerwillig. Über das zwiespältige Verhältnis des Komponisten zu seiner letzten Heimat.

Wir schreiben das Jahr 1909: Die ebenso lang geplante wie hinausgezögerte Amerikatournee steht an und passt Sergej Rachmaninow eigentlich gerade gar nicht. Gerade erst sind die Rachmaninows aus Dresden – wohin sie vor der Russischen Revolution von 1905 geflohen waren – zurück auf ihrem geliebten Landgut in Iwanowka und eben erst ist die Tinte seines neuesten Werkes Die Toteninsel trocken, da soll es schon weitergehen, auf große Reise in eine fremde Welt. Als dann einige Monate vor Abreise auch noch sein amerikanischer Agent stirbt, vergeht Sergej Rachmaninow die Lust auf das Vorhaben völlig: »Zum Teufel damit«, stöhnt er in einem Brief. Er lässt viel Zeit verstreichen. Für die Tournee hat er eigens ein Klavierkonzert angefangen, das Dritte. Erst kurz bevor das Schiff ablegt, stellt er es fertig. Zeit zum Einüben bleibt ihm nicht mehr, das muss er während der Überfahrt auf einer stummen Klaviatur nachholen. 

Die Tour wird ein riesiger Erfolg – sowohl musikalisch als auch finanziell. Das kommt nicht von ungefähr: Ein gutes Jahrzehnt zuvor spielte sein Cousin Alexander Siloti Rachmaninows Prélude in cis-Moll op. 3/2 auf seiner Amerika-Tournee und die Dinge nahmen ihren Lauf: Ein unglaublicher Hype entsteht. Fluch und Segen für Rachmaninow. Zwar ist sein Name schon in aller Munde, doch kann kein Konzert zu Ende gehen, ohne dass das Prélude erklingt – spätestens als Zugabe. Irgendwann ruft das Publikum nicht mehr »Zugabe«, sondern »cis-Moll«, Rachmaninow ist nicht mehr Rachmaninow, sondern »Mr. cis-Moll«. Die Tour geht für ihn als Tortur zu Ende.

Flucht aus Russland

Ab 1914 ziehen ein weiteres Mal dunkle Wolken über den Rachmaninows auf: Der Erste Weltkrieg und die Oktoberrevolution von 1917 treiben die Familie erneut in die Flucht. Unruhen, Streiks, Inflation und Versorgungsengpässe machen ein Verbleiben unmöglich. Durch den Bauernaufstand ist ihre persönliche Sicherheit auf ihrem Landgut gefährdet. Über Schweden geht es in die USA, wo Rachmaninow als gefeierter und doch völlig überarbeiteter Pianist versucht, seiner Familie den aus guten Tagen gewohnten Standard zu erhalten. 

Bis zu 70 Konzerte pro Halbjahr lassen dabei kaum Spielraum für kompositorische Arbeiten. 1922 klagt er einem Bekannten in Moskau sein Leid: »Äußerst wenig liebe ich meine derzeitige Tätigkeit! Während der ganzen Zeit habe ich keine einzige Zeile komponiert.« Auch Heimweh plagt Rachmaninow. Richtig assimilieren will er sich nicht, er spricht kaum Englisch, verkehrt hauptsächlich mit anderen russischen Exilanten. In einem Zeitungsinterview von 1930 gesteht er:  »Eine noch schwerere Last liegt auf meinen Schultern. Es ist das Bewusstsein, dass ich keine Heimat habe. Die ganze Welt steht mir offen, nur ein Platz ist mir verschlossen, und das ist mein eigenes Land, Russland.« 

Das sollte auch so bleiben: Weil er in der New York Times einen Brandbrief gegen die katastrophalen Zustände unter Stalin unterschreibt, wird er dort zur Persona non grata: »Nieder mit Rachmaninow!«, heißt es da. Zwei Jahre lang wurden seine Werke dort mit einem Aufführungsverbot belegt. Zumindest nach Europa soll es aber zeitweise wieder gehen. In der Schweiz kauft sich die Familie ein Stück Idylle und nennt das Anwesen Senar: Sergej & Natalja Rachmaninoff. Dort findet er auch wieder Zeit und Muße zu komponieren.

Die letzten Jahre in den USA

Doch nur einige Jahre später wird ihnen auch dieses Glück genommen, als es in Europa, so Rachmaninow, »wenig Sonne« gibt, »sehr wenig! Denn es ist hitler’sches Wetter«. Auf ein trotziges »Komme, was wolle« folgt bald zunehmende Nervosität – trotz der erklärten Neutralität der Schweiz. Mit einer der letzten Überseeverbindungen verlässt er seinen geliebten Landsitz und reist zurück in die USA – einen Tag vor dem Hitler-Stalin-Pakt: »Dies ist der einzige Platz auf der Welt, wo ein Mensch für das respektiert wird, was er ist und was er tut, wobei es unwichtig ist, wer er ist und woher er kam«. Rachmaninow hat den Staaten eben auch vieles zu verdanken.  

Trotz des zunehmenden Alters – er ist mittlerweile Mitte 60 – macht er weiter wie gewohnt: Konzert um Konzert gibt er im ganzen Land, bis er sich irgendwann nur noch hinter geschlossenem Vorhang zum Flügel quält, weil er den kurzen Weg vor lauter Rückenschmerzen nicht mehr allein zurücklegen kann.

Doch Amerika ist nicht nur Musik, sondern auch Film. In seinem letzten Lebensjahr kaufen die Rachmaninows ein Haus in Beverly Hills und ziehen ganz in die Nähe der großen Filmstudios. Und auch hier ist Rachmaninow extrem erfolgreich – ohne es je angestrebt zu haben. Keine einzige Note Filmmusik schreibt er in seinem Leben und doch sind seine Stücke in unzähligen Filmen zu hören; vor allem besagtes Prélude und das Zweite Klavierkonzert. Zehn Jahre nach der ersten nennenswerten Verwendung sind die Filme bereits so überladen mit seiner Musik, dass sich Disney zu einer Parodie genötigt sieht – Micky Maus spielt Rachmaninow. Bei der Filmvorführung während einer Studiobesichtigung gibt der zu Protokoll, er sei »noch nie so bewegt gewesen, wie durch die Aufführung vom großen Maestro Maus.« Es nützt ja nichts, man muss es eben mit Humor nehmen.

In Beverly Hills wohnt Rachmaninow nicht nur in der Nähe der Filmstudios, sondern auch in einer Nachbarschaft mit Arthur Rubinstein, Vladimir Horowitz und Igor Strawinsky – mit dem er sich nach lebenslanger Feindseligkeit sogar noch aussöhnt. Am Ende findet Rachmaninow in den USA also doch ein Stückchen Heimat, sein spätes Glück – und auch seine letzte Ruhe? Weil er kurz vor seinem Tod die amerikanische Staatsbürgerschaft annimmt, wird Rachmaninow zwar in Valhalla, im Bundesstaat New York, begraben. Allerdings unternimmt Russland noch 2015 den bis heute letzten Versuch, Rachmaninows Leichnam in sein Geburtsland zu überführen.