Vor 50 Jahren begann mit der Gründung der 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker eine einzigartige Erfolgsgeschichte. Ihren runden Geburtstag feierten sie im Januar 2022 mit einem Konzert, in dem sie ihre schönsten Werke und Arrangements vorstellen. Phil hat mit ehemaligen und aktiven Mitgliedern des Ensembles gesprochen.
Rudolf Weinsheimer hat im Juli seinen 90. Geburtstag gefeiert. Wenn es um seine 12 Cellisten geht, beginnt er sofort zu erzählen, mit geradezu jugendlichem Elan. Und er kann sich an jedes Detail erinnern. An die Sache mit dem Kaiser von Japan zum Beispiel. Seine Hoheit Akihito spielte selbst Cello und besuchte darum jeden Auftritt der zwölf Berliner in Tokio. 1993 beschloss Weinsheimer, bei einem Konzert in der Suntory Hall ein paar Worte direkt an den Tenno zu richten, um die Zugabe anzukündigen. Statt Yesterday, wie sonst üblich, sollte Kojo no tsuki erklingen, das populäre Volkslied, in dem der Mond über einer Burgruine besungen wird.
»Von meinem Schwiegervater, der Japanologe war, hatte ich mir einige Sätze formulieren und in Lautschrift aufschreiben lassen«, berichtet Rudolf Weinsheimer bei Kaffee und Kuchen in seiner Zehlendorfer Dachgeschosswohnung. »Die übte ich dann bei den täglichen Saunabesuchen im Hotel – mit tatkräftiger Hilfe der anwesenden Muttersprachler.« Als der Cellist während des Schlussapplauses dann den links oben im Saal sitzenden Kaiser ansprach, erhob sich sofort das gesamte Publikum und verbeugte sich in Richtung Akihitos. »Unser japanischer Manager bekam fast einen Ohnmachtsanfall«, sagt Weinsheimer schmunzelnd, »der Kaiser aber lobte mich hinterher: Er habe jedes meiner Worte verstanden.«
Für gekrönte Häupter oder bedeutende Staatsmänner zu spielen erfüllte den Gründer der 12 Cellisten stets mit Stolz. Dafür schreckte er auch nicht vor unkonventionellen Aktionen zurück. Als seine Tochter beim sommerlichen Familienurlaub auf der griechischen Insel Skiathos zwischen all den Leuten Hans-Dietrich Genscher entdeckte, sprintete ihr Vater sofort los und rief dem überraschten FDP-Politiker ein lautes »Mein Außenminister!« entgegen. Nach einem kurzen Smalltalk hatte Rudolf Weinsheimer für sein Ensemble eine Einladung zur nächsten OSZE-Konferenz in der Tasche.
Während der 24 Jahre, die Weinsheimer die 12 Cellisten managte, wurden sie zu deutschen Kulturbotschaftern, spielten auf Schloss Augustusburg, beim Nato-Gipfel und bei der Weltbanktagung, begleiteten Bundespräsident Richard von Weizsäcker nach Schweden, traten im Fernsehen auf, in der Arena di Verona – und immer wieder in Japan, wo man das glorreiche Dutzend aus Berlin ganz besonders schätzt. Aus einem Zufallsfund war eine globale Erfolgsgeschichte geworden.
Zu Beginn des Jahres 1972 hatte Rudolf Weinsheimer einen Anruf aus Salzburg erhalten, von einem befreundeten ORF-Redakteur, der auf ein kurioses Werk gestoßen war. Einen Hymnus nämlich, den der Cellovirtuose Julius Klengel 1920 dem Dirigenten Arthur Nikisch zum 65. Geburtstag komponiert hatte. Die Besetzung: 12 Celli.
Dieses Kuriosum sollte aufgenommen werden – und der Redakteur dachte sparsam: Weil die Berliner Philharmoniker zu Karajans Osterfestspielen ohnehin nach Salzburg kommen würden, ging die ORF-Anfrage nicht an die Wiener Philharmoniker, sondern an deren deutsche Konkurrenten.
Weinsheimer kann seine Stimmgruppe für den Nebenjob begeistern, am 25. März führen sie Klengels Hymnus öffentlich im »Mozarteum« auf – zu ihrem eigenen Vergnügen und zur Begeisterung des Publikums. Noch auf der Rückfahrt nach Berlin beschließt Rudolf Weinsheimer, aus dieser Eintagsfliege eine ganz große Sache zu machen. Die 12 Cellisten der Berliner Philharmoniker sollen zum Kammerorchester mit eigenem Repertoire werden.
Ein weiterer Zufall hilft ihm dabei: Tausendmal hat der Gründer die Anekdote schon erzählt, doch seine Augen leuchten auch jetzt wieder, als wäre es gerade erst passiert, dass er bei strömendem Regen in Dahlem eine Tramperin in sein Auto einsteigen lässt – die sich als Tochter des Komponisten Boris Blacher entpuppt. Auf die Frage der 15-jährigen Tatjana, wie sie sich erkenntlich zeigen könne, entgegnet der Cellist geistesgegenwärtig: »Indem Sie Ihren Vater überreden, ein Werk für die 12 Cellisten zu schreiben.« Was dieser auch prompt tut.
Als der Salzburger Komponist Helmut Eder ein weiteres Stück beisteuert, ist Weinsheimer seinem Ziel eines abendfüllenden Programms ganz nahe. Er fügt den drei Originalwerken noch Heitor Villa-Lobos’ Bachianas Brasileiras Nr. 1 hinzu, die 1930 für immerhin acht Celli geschrieben wurden, sowie das Arrangement einer Suite des böhmischen Barockkomponisten David Funck. Und dann kann, wiederum in Salzburg, 1974 der erste Abend der 12 Cellisten über die Bühne gehen, in Anwesenheit eines nachhaltig beeindruckten Herbert von Karajan.
Die Musiker sitzen dabei im Halbkreis, ganz links die Solo-Cellisten Eberhard Finke, Ottomar Borwitzky und Wolfgang Boettcher, dann folgen nach der Dauer der Orchesterzugehörigkeit Peter Steiner, Heinrich Majowski, Gerhard Woschny, Rudolf Weinsheimer, Christoph Kapler, Alexander Wedow, Klaus Häussler, Jörg Baumann und schließlich Götz Teutsch.
»Hier ist Cello Nummer sieben«, wird sich Weinsheimer künftig oft am Telefon melden. Und er telefoniert viel, wirbt bei der Presse hartnäckig um Aufmerksamkeit, nimmt Anfragen von Veranstaltern entgegen, kommuniziert mit Komponisten, kümmert sich vor allem um die komplizierte Logistik. Denn die 12 Cellisten können ja nur dann auftreten, wenn sie nicht bei den Philharmonikern gebraucht werden.
Darum lassen sich die Auftritte oft nur zwischen zwei Orchesterproben quetschen: Am Tag des Konzerts geht es nachmittags los für die Zwölf zum Zielort, manchmal sogar mit einem Privatflugzeug, am nächsten Morgen heißt es in aller Herrgottsfrühe aufstehen, denn um zehn Uhr warten die Kollegen bereits wieder in der Philharmonie.
Jeder der Zwölf hat haarsträubende Anekdoten auf Lager über haarscharf kalkulierte Zeitpläne und gerade noch geglückte Auftritte. Martin Menking, der 1996 nach Rudolf Weinsheimers Pensionierung die Position des Cellos Nr. 7 übernommen hat, und damit auch die Geschäftsführung der 12 Cellisten, staunt ungläubig beim Gedanken daran, dass diese organisatorischen Meisterleistungen auch ohne Computer, Handy und Whatsapp-Gruppe möglich waren.
Aber es ging irgendwie – und das Publikum war jedes Mal aufs Neue hingerissen, wenn der Himmel wieder voller Celli hing. Denn diese zwölf Kniegeiger können einfach alles: sich in lichte Violin-Regionen aufschwingen und in Bass-Tiefen wildern, wie eine knarrende Tür klingen oder wie eine singende Säge.
Zusätzlich zu den klassischen Spieltechniken beherrscht das Virtuosendutzend eben auch das Schubbern, Schaben und rauchige Bogenrutschen, das Kratzen, Klopfen, Rufen und Flageolett-Pfeifen. Vor allem aber können die Celli mit einer ganz und gar menschlichen Stimme singen. Selbst die schlichtesten Melodien tragen hier ganz große Abendrobe, gewissermaßen akustische Haute Couture.
Der Fantasie der Arrangeure sind also keine Grenzen gesetzt, wenn sie aus einem komplexen Geflecht der Einzelstimmen polyfone Dialoge konzipieren, mit tausend raffinierten Details, unterschwelligen Gegenbewegungen und Kommentaren aus dem Off, mit verrückten Klangeffekten, deren Erzeugungsmethoden rätselhaft bleiben. Doch die Konzerte der Zwölf sind nicht nur eine Freude für die Ohren, sondern auch Cinemascope fürs Auge. Wie basisdemokratisch die Nummern angelegt sind, wie gerecht die Soli durch die Stimmen wandern, das erschließt sich tatsächlich nur, wenn man die Zwölf nicht nur hört, sondern auch sieht.
Zu Beginn spielten sie vor allem Neue Musik. »Wenn uns eine Stadt engagieren wollte, habe ich stets gesagt: ›Wir kommen gerne, aber eine Uraufführung müssen wir machen‹«, berichtet der Gründervater. Und die Kompositionsaufträge müssen natürlich die Einladenden finanzieren. Für Bonn beispielsweise komponierte Iannis Xenakis mit Windungen einen fulminanten Klangrausch, bei dem die Cellisten die unerhörtesten Sounds produzieren, teilweise sogar wie dröhnende Motorrad-Motoren klingen. »Eines unserer besten Stücke«, schwärmt Weinsheimer.
Als die erste Schallplatte der 12 Cellisten 1978 in der ZDF-Sendung »Verliebt in Musik« vorgestellt werden soll, in der auch Caterina Valente und Roberto Blanco auftreten, kommen solche gewagten Neutönereien natürlich nicht infrage. »Meine Frau und meine Tochter sagten: ›Nehmt doch was von den Beatles‹«, so Rudolf Weinsheimer.
Er kannte – unglaublich, aber wahr! – den Song Yesterday zwar nicht, den sie vorschlugen, aber beauftragte dennoch den Bigband-Leader Werner Müller mit einem Arrangement. »Es wurde ein Dauerbrenner«, sagt er lachend, »den wir von da an immer als Zugabe spielten.« Ronald Reagan soll sogar Tränen der Rührung vergossen haben, als die 12 Cellisten bei seinem Staatsbesuch in Bonn Yesterday anstimmten.
Lange waren die Cellisten eine Art Männerchor der Berliner Philharmoniker: Denn während andere Stimmgruppen bereits seit den 1980er-Jahren weibliche Verstärkung bekamen, dauerte es bei ihnen bis zum Jahr 2006, ehe mit der Französin Solène Kermarrec die erste Frau dazustieß. Seit 2009 steht ihr die Britin Rachel Helleur zur Seite. Inhaltlich hatte sich das Ensemble da bereits komplett neu ausgerichtet. Während sich Martin Menking als Weinsheimer-Erbe in die Verwaltungsarbeit hineinfuchste, entwickelte Solocellist Georg Faust neue Konzepte für die Repertoireauswahl. Zur Feuertaufe der neuen 12 Cellisten wurde eine Tango-CD, die sie selbstbewusst bei der Südamerikatournee der Philharmoniker 2000 in Buenos Aires vorstellten.
Ihre Programmlinie mit stilistischen Crossovers haben die 12 Cellisten seitdem konsequent ausgebaut. Zum 30-jährigen Jubiläum beschenkten sie sich mit einem Jazz-Album, an dem der Trompeter Till Brönner beteiligt war, und auch Sir Simon Rattle – als Rapper!
Für das Album Angel Dances arbeiteten sie mit der Gospel-Spezialistin Jocelyn B. Smith und dem Rundfunkchor Berlin zusammen, dann folgte französisches Repertoire aus Klassik und Chanson in Fleur de Paris. 2016, für ihre neunte CD, kehrten sie zum Tango zurück, weil der besonders gut zu ihren Instrumenten passt: »Wir Cellisten sind nun mal Melancholiker«, findet Ludwig Quandt. »Wir brauchen traurige Musik, um glücklich zu sein.«
Offen, vielfältig und neugierig präsentieren sich die 12 Cellisten heute, im Jahr ihres 50. Gründungsjubiläums. Aus Rudolf Weinsheimers verrückter Idee, an die zunächst selbst seine Cellistenkollegen nicht recht glauben mochten, ist eine generationsübergreifende Erfolgsstory geworden.