Vor 40 Jahren gründeten zwei Hände voll passionierter Kammermusiker aus Mitgliedern der Berliner Philharmoniker ein Ensemble, um Schuberts Oktett zu spielen. So weit, so gut. Was als couragiertes Experiment begann, entwickelte sich zur langlebigen Erfolgsgeschichte. Seit inzwischen vier Jahrzehnten gehört das Scharoun Ensemble, das sich nach dem Architekten der Philharmonie Berlin benannte, zu den führenden kammermusikalischen Klangkörpern Deutschlands und eröffnet in seiner ungewöhnlichen Besetzung immer neue Klangwelten. Von Anfang an verstanden es die Mitglieder, Brücken zwischen Tradition und Moderne zu schlagen, wobei sie mit den namhaftesten Dirigent*innen und Komponist*innen zusammenarbeiteten. Zum 40. Geburtstag blicken wir zurück.
Woran erkennt man die besten Orchestermusikerinnen und -musiker? Sie wollen nicht nur die großen symphonischen Gipfelwerke spielen, sondern es drängt sie auch zur kleinen Form. Kaum haben sie die Partituren von Anton Bruckner, Gustav Mahler oder Richard Strauss zugeklappt, denken sie auch schon darüber nach, welche spannenden Stücke sie zusammen mit ihren engsten Künstlerfreunden und -freundinnen entdecken könnten. Im intimen Rahmen, wo der intensivste Gedankenaustausch möglich ist.
In großen Formationen muss es zwingend einen Anführer geben, jemand, der sagt, wo es für alle langgehen soll. Kammermusik dagegen kann gelebte Demokratie sein: Weil es hier vor allem darum geht, ganz genau zuzuhören, darauf zu achten, was die anderen Stimmen sagen, Themen aufzugreifen, weiterzudenken, die eigenen Argumente zu schärfen. Leidenschaftlich streiten in den Proben? Ja, bitte, aber immer um der Sache willen! Ist das Ziel doch die bestmögliche Interpretation: das tiefste Verständnis der Werke.
Als sich das Scharoun Ensemble Berlin 1983 aus den Reihen der Berliner Philharmoniker formierte, war Peter Riegelbauer 27 Jahre jung. 1980 hatte er sich, direkt nach dem Studium, einen Platz in der Karajan-Akademie der Berliner Philharmoniker erspielt, 1981 war er ordentliches Mitglied der Kontrabassgruppe geworden. So spannend und nervenaufreibend die ersten Jahre als Neuling im Orchester auch waren, so stark verspürte er den Drang, Kammermusik zu machen – mit den wenigen anderen jungen Leuten, die es damals bei den Philharmonikern gab.
Voller Respekt spricht Peter Riegelbauer rückblickend vom »philharmonischen Geist«, der in diesem eingeschworenen Männerbund herrschte, vom Stolz der reifen – aber nicht verknöcherten! – Herren, von denen einige sogar noch unter Wilhelm Furtwängler gespielt hatten. Und doch war da eine gewisse Distanz zwischen den Altgedienten und den neu Hinzugestoßenen. Zu diesen gehörten der Hornist Stefan de Leval Jezierski sowie bei den Violinen Alessandro Cappone, der kurz vor Riegelbauer aufgenommen worden war, und Madeleine Carruzzo, die gerade als erste Frau überhaupt ein Probespiel bei den Philharmonikern bestanden hatte. Sie beschlossen, ein eigenes Kammermusikensemble zu gründen, sie waren dabei zu acht – denn Schuberts wunderbares Oktett in der ungewöhnlichen Besetzung von Klarinette, Fagott, Horn, zwei Violinen, Viola, Violoncello und Kontrabass wollten sie sich als erstes vornehmen.
Peter Riegelbauer hatte bereits Erfahrung mit Neugründungen: Er war dabei gewesen, als sich aus Mitgliedern des Bundesjugendorchesters die Junge Deutsche Philharmonie formierte. Und er gehörte zu jenen Mutigen, die sich 1980 innerhalb der Jungen Deutschen Philharmonie zusammentaten, um mit dem Ensemble Modern ganz neue, hierarchiefreie Arbeitsformen auszuprobieren – und neueste Musik zu spielen.
Mit seinen neuen musikalischen Freunden eine freie Formation zu etablieren – ans Orchester angedockt, aber inhaltlich frei –, schien dem Kontrabassisten geradezu eine Selbstverständlichkeit. Die Frage war nur, wie sollte die neue Berliner Kammermusikvereinigung heißen? Die zündende Idee kam von Elmar Weingarten, dem späteren Intendanten der Philharmoniker: »Benennt euch doch nach Hans Scharoun!« Also nach dem Architekten der Philharmonie, einem Künstler, der Zukunftsweisendes geschaffen hat, der stilbildend wurde im Bau von Konzertsälen, aber seine Visionen nie im luftleeren Raum entwickelte, sondern aus der Kenntnis des historischen Erbes. Das passte zum Geist des neuen Ensembles, das gedanklich in alle Richtungen offen sein wollte, das neugierig war auf die Vergangenheit und die Gegenwart.
Elmar Weingarten war 1983 übrigens nicht nur der Taufpate der Formation, sondern er fand auch den idealen Ort für ihr Debütkonzert: Das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, jenes avantgardistische Sichtbetongebäude in der Lentzeallee beim Breitenbachplatz, das Hermann Fehling und Daniel Gogel Anfang der 1970er-Jahre im Geiste Scharouns entworfen hatten. Dass Scharouns Geburtstag sich eine Woche vor dem Jubiläumskonzert zum 40-jährigen Bestehen des Scharoun Ensembles in der von ihm entworfenen Philharmonie Berlin zum 130. Mal jährt, ist ein wunderbarer Zufall.
Zweifellos wäre es damals aus Marketingsicht klüger gewesen, einen Namen zu wählen, in dem das Schlüsselwort »philharmonisch« vorkommt, um klarzumachen, woher die Musizierenden kommen. Doch das Projekt war ja nicht kommerziell gedacht. Hier ging es allein um die ernsthafte Auseinandersetzung mit den Werken. Besonders hohe Maßstäbe legte dabei der Cellist Richard Duven an den Tag, der 1987 zum Scharoun Ensemble stieß. Bald übernahm er die terminliche Organisation der Proben – und setzte stets mehr an, als den anderen nötig schien. Doch der Perfektionist sollte recht behalten, die Ergebnisse der intensiven Arbeit waren so exzellent, dass sich die Veranstalter weltweit um das Ensemble rissen. Neben den Berliner Aktivitäten – oft auch als Benefizveranstaltungen für engagierte Projekte wie Greenpeace oder die Friedensbewegung – führten bald Tourneen in die entferntesten Länder. Nach Russland, noch vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, nach China, immer wieder nach Japan und in die USA. Eine beglückende Erfahrung waren auch die zehn Jahre als Residenzensemble an der American Academy in Rom oder die Sommerkurse mit polnischen und deutschen Studierenden im Penderecki-Musikzentrum von Lusławice.
Große Dirigenten haben mit dem Scharoun Ensemble Berlin gearbeitet – Claudio Abbado, Daniel Barenboim, Sir Simon Rattle –, und es gab diese wunderbare Freundschaft zu Loriot: Über 40 Mal haben sie zusammen Camille Saint-Saëns’ Karneval der Tiere aufgeführt. Zu einer anderen Konstante im Repertoire wurde Igor Strawinskys Die Geschichte vom Soldaten, seit 1988 waren so unterschiedliche Künstler und Künstlerinnen wie Udo Samel, Otto Sander, Fanny Ardant, Michael König oder Dominique Horwitz an dem außergewöhnlichen Musiktheaterstück beteiligt. Sogar ein eigenes Festival haben die »Scharouns« gegründet: Seit 2004 verbringen sie jeweils Anfang September zwei intensive Wochen mit 40 Nachwuchsprofis in Zermatt. In der allerschönsten Schweizer Weltabgeschiedenheit wird dann hochkonzentriert geprobt und konzertiert.
Zu den größten Glücksmomenten, die er dem Scharoun Ensemble verdankt, gehört für Peter Riegelbauer die Zusammenarbeit mit lebenden Komponistinnen und Komponisten. Mit Altmeistern wie Hans Werner Henze, Pierre Boulez, Karlheinz Stockhausen, György Ligeti und Isang Yun, aber auch mit Frank Michael Beyer, Matthias Pintscher, Thomas Adès, Olga Neuwirth, Andrew Norman und Jörg Widmann. »Im persönlichen Kontakt, bei der musikalischen Detailarbeit in den Proben erschließen sich uns Interpreten die Werke auf eine ganz andere Weise als nur beim Studium des Notentextes«, schwärmt der Kontrabassist.
Und dann war da natürlich noch Brett Dean: der mehrfach begabte Australier, der als Bratscher zu den Philharmonikern gekommen war, bald zum Scharoun Ensemble stieß, dort zunächst geistreiche Oktett-Bearbeitungen vorlegte, beispielsweise von Johann Strauß’ Fledermaus-Ouvertüre, und dann begann, eigene Werke zu schreiben. 1999 verließ er sehr zum Bedauern seiner Kolleginnen und Kollegen das Orchester und das Scharoun Ensemble, um sich künftig in seiner Heimat ganz dem Komponieren zu widmen. Die freundschaftliche Verbindung nach Berlin aber blieb bestehen, und selbstverständlich hat Brett Dean fürs Jubiläumskonzert vom anderen Ende der Welt eine nagelneue Partitur geschickt. Zusammen mit Schuberts Oktett, das natürlich nicht fehlen darf, Henzes Quattro Fantasie und einem neuen Werk von David Philip Hefti ergibt sich ein Festprogramm, das am 27. September auf ideale Weise die Vielseitigkeit des Ensembles erlebbar werden lässt.
50 Jahre Karajan-Akademie
Das Ausbildungsprogramm der Berliner Philharmoniker feiert Geburtstag.
Orchestergeschichte
Entdecken Sie mehr als 140 Jahre Geschichte der Berliner Philharmoniker.
Mythos Chefdirigent
Wertzuwachs und Bedeutungswandel von Dirigent und Chefdirigent