»Da haut’s mi um!« Herbert von Karajan war kein Freund großer Worte, doch jetzt reagierte er geradezu euphorisch: der Maestro hatte soeben erfahren, dass die Finanzierung einer Orchester-Akademie der Berliner Philharmoniker zustande gekommen war. 50 Jahre später hat die Einrichtung, die mittlerweile Karajans Namen trägt, internationale Erfolgsgeschichte geschrieben. Ein Geburtstagsglückwunsch.
Von einer »glücklichen Stunde« sprach Herbert von Karajan in einem Fernsehinterview, nachdem am 25. Juni 1972 die Orchester-Akademie des Berliner Philharmonischen Orchesters e.V. gegründet worden war. Im Sommer dieses Jahres kann der 50. Geburtstag einer mittlerweile nach ihrem Initiator benannten Einrichtung gefeiert werden, die damals einzigartig war, seither aber, vor allem im deutschsprachigen Raum, überall Schule gemacht hat und zu einem wesentlichen Identitätsmerkmal der Berliner Philharmoniker geworden ist.
Zum Gründungszeitpunkt der Akademie befanden sich Karajan und das Orchester unzweifelhaft auf einem Höhepunkt ihrer Zusammenarbeit. Durch den 1963 eröffneten Scharoun-Bau hatte der Klangkörper einen weithin bewunderten eigenen Konzertsaal in der Heimatstadt erhalten und bei den seit 1967 ausgerichteten Osterfestspielen in Salzburg hatte man eine jährlich aufgesuchte auswärtige Residenz von Weltgeltung inne. Aus dieser Perspektive lässt sich die fast in der Mitte von Karajans Amtszeit erfolgte Gründung der Orchester-Akademie als eine der späten zentralen und bleibenden Innovationen der Ära bezeichnen, mit der die Weichen auch auf eine Zukunft ohne den damaligen künstlerischen Leiter umgestellt wurden. »Wer einer Gemeinschaft vorsteht und sie wirklich in sein Herz geschlossen hat«, so der Dirigent im Interview, »muss sich ja sagen: Wie geht es weiter, wenn ich nicht mehr da bin?« Tatsächlich sollten Karajans Nachfolger noch stärker als er selbst vom Erfolg der Institution profitieren.
Das Nachwuchsproblem hatte den Dirigenten bereits seit den 1960er-Jahren umgetrieben. Auch die gewerkschaftliche Vertretung der deutschen Orchestermusiker beklagte in dieser Zeit, dass wichtige Stellen in Spitzenensembles oft jahrelang nicht adäquat besetzt werden konnten. Seit 1961 markierte die Mauer einen gravierenden Standortnachteil, zumal nun die einstmals üppig sprudelnde Quelle von ostdeutschen Bewerbungen versiegte. In der Satzung der Institution wird daher ausdrücklich auch die Absicht verkündet, »die Ausstrahlung und Anziehungskraft der Musikstadt Berlin zu fördern und zu verstärken«.
Die Grundlagen der Nachwuchsorganisation sind bis heute auf bemerkenswerte Weise nahezu unverändert geblieben – bis auf wenige Punkte. »Außergewöhnlich begabte Musiker« sollen laut Satzung »für die Dauer von etwa drei Jahren in die Orchester-Akademie aufgenommen werden« und in dieser Zeit regelmäßig Unterricht von den Konzertmeistern und Stimmführern der verschiedenen Instrumentengruppen erhalten. Vor allem jedoch ermöglicht die Institution den Nachwuchskräften die regelmäßige Mitwirkung an philharmonischen Konzerten, bei denen sie die philharmonische Spielweise aus der Mitte des Klangs heraus erlernen sollen. Ein weiterer zentraler Aspekt der Ausbildung war und blieb die kammermusikalische Betätigung.
Die Existenz der Karajan-Akademie, die inzwischen auch von der öffentlichen Hand gefördert wird, verdankt sich wesentlich dem Engagement von privaten Spendern und Wirtschaftsunternehmen. Stellvertretend seien hier nur die Hauptakteure der ersten und zweiten Stunde erwähnt: Walter Casper, Vorstandsmitglied der Metallgesellschaft AG, und Jürgen Ponto, Vorstandssprecher der Dresdner Bank. Im Rahmen der Berliner Feiern zum 100. Geburtstag der Dresdner Bank im September 1972 wurde das Projekt der breiten Öffentlichkeit präsentiert.
Voller Begeisterung übernahmen Karajans Nachfolger als Chefdirigent die musikalische Führung der Institution. Claudio Abbado, dem die Jugendförderung immer schon besonders am Herzen gelegen hatte, vermachte 2002 der zwei Jahre zuvor neu ge- gründeten Stiftung zur Förderung der Karajan-Akademie das Vermögen seiner eigenen Musikstiftung. Seit 2006 wird in diesem Rahmen in unregelmäßigen Abständen der Claudio-Abbado-Kompositionspreis verliehen.
Während Simon Rattle mit der Akademie so ungewöhnliche Werke wie Hans Zenders Bearbeitung der Winterreise und Georg Friedrich Haas’ in vain interpretierte, realisierte Kirill Petrenko als erstes Projekt eine gefeierte szenische Produktion von Puccinis Oper Suor Angelica.
Den Erfolg der Karajan-Akademie belegen die Zahlen auf eindrucksvolle Weise: Während bis ins Todesjahr Herbert von Karajans 1989 insgesamt erst neun Akademisten und eine Akademistin Aufnahme bei seinem Orchester gefunden hatten, blicken heute von 121 Philharmonikern 43, also mehr als ein Drittel, auf eine Ausbildung in der Nachwuchsorganisation zurück. In 50 Jahren glückte zufälligerweise auch 50 Absolventen der Aufstieg ins Orchester. Von insgesamt fast 800 Absolventinnen und Absolventen hat ein hoher Prozentsatz Positionen bei anderen hervorragenden Ensembles erhalten.
Das Jubiläum bietet zudem Anlass, Karajan auch als »Diversity Manager« zu würdigen, wie man heute vielleicht sagen würde, denn dank der Nachwuchsinstitution ist das Orchester, das 1972 sehr »deutsch« und ausschließlich »männlich« war, heute ungleich internationaler und »weiblicher« geworden: Die aktuell in Ausbildung befindlichen Stipendiatinnen und Stipendiaten, von denen knapp die Hälfte Frauen sind, stammen aus 18 verschiedenen Nationen. Wie sinnvoll eine solche direkt dem Klangkörper angegliederte Einrichtung ist, in der die anspruchsvolle Kunst des Orchesterspiels gelehrt und gelernt wird, hat sich mittlerweile herumgesprochen. Allein in Berlin bestehen heute nicht weniger als sieben Orchester-Akademien. Seit Mai 2017 trägt die Ursprungsorganisation auch offiziell den Namen der Karajan-Akademie, unter dem sie intern schon länger geläufig war. Tatsächlich stellt sie einen der zentralen Bestandteile des großen künstlerischen und institutionellen Erbes dar, das Herbert von Karajan der Nachwelt hinterlassen hat.