Eine Aufführung der Alpensinfonie von Richard Strauss ist in jeder Hinsicht ein Ereignis, großes Kino für die Ohren. Doch ging es dem Komponisten um mehr, als ein musikalisches Berggemälde zu schaffen.
Eigentlich schien es, als ob Richard Strauss keine Symphonischen Dichtungen – und erst recht keine Symphonie – mehr schreiben wollte. Jedenfalls widmete er sich nach seiner letzten, der Sinfonia Domestica von 1902/03, ausschließlich der Oper und schuf im Verlauf von sieben Jahren die drei Meisterwerke Salome, Elektra und Der Rosenkavalier. »Sinfonien schreiben freut mich gar nicht mehr«, lässt er seinen Librettisten Hugo von Hofmannsthal im März 1911 wissen und ermahnt diesen gleichzeitig, ihm doch bald ein neues Opernlibretto zu liefern: »Vergessen Sie nicht, ich habe für den Sommer noch nichts zu arbeiten.«
Zum Glück ließ sich Hofmannsthal Zeit – und Strauss begann im Sommer 1911, notgedrungen, sich mit früheren Skizzen zu einer Alpensinfonie in vier Teilen aus dem Jahr 1902 zu beschäftigen und konzipierte nun ein monumentales einsätziges Werk. Es sollte seine letzte Tondichtung für Orchester werden. Früheste Ideen allerdings reichen bis in Strauss’ Kindheit zurück – Erinnerungen an eine Bergpartie, die der Vierzehnjährige 1878 unternommen hatte. Aufbruch um zwei Uhr nachts, fünf Stunden Aufstieg, Sonnenaufgang, Gipfelrast – »schon auf dem Wege daher hatte uns ein furchtbarer Sturm überfallen.« Dann bei Gewitter und Regen drei Stunden über Stock und Stein abwärts. »Am nächsten Tag hab ich die ganze Partie auf dem Klavier dargestellt«, berichtet Strauss seinem Jugendfreund Ludwig Thuille. »Natürlich riesige Tonmalerei und Schmarrn (nach Wagner).«
Riesige Dimensionen hat die Alpensinfonie, die zwischen 1911 und 1915 entstand, in der Tat. Neben der üblichen Orchesterbesetzung verzeichnet die Partitur vierfach besetzte Bläser, Heckelphon, vier Wagnertuben, zwei Harfen, Orgel, Wind- und Donnermaschinen, Herdengeläute, Tamtam und Celesta. Dazu noch zwölf Hörner, zwei Trompeten und zwei Posaunen, die hinter der Szene zu postieren sind.
Genau 100 Tage brauchte Strauss, um das riesige Werk zu instrumentieren: »Jetzt endlich hab ich instrumentieren gelernt.« Die Uraufführung fand am 28. Oktober 1915 statt, übrigens in der Berliner Philharmonie – der Komponist dirigierte die ihm herzlich verbundene Dresdner Hofkapelle. Eine orchestrale »Tour de force«, eine alpine »Tour d’orchestre« – die Alpensinfonie gilt seither als Prototyp einer tonmalerischen Programmmusik. Rein äußerlich zeigt sich das an den 22 Überschriften, welche die einzelnen Abschnitte auf dieser musikalischen Bergpartie thematisieren.
Der Form nach ist das Werk eine von Vor- und Nachspiel (Nacht) eingerahmte einsätzige Symphonie. Hauptthema ist das Bergwandern, und es findet seinen musikalischen Ausdruck in einem forsch voranschreitenden Motiv in Es-Dur (»sehr lebhaft und energisch«), das die einzelnen Abschnitte der Alpensinfonie miteinander verbindet. Die Nacht beginnt mit einem gleichsam verschleierten Thema, das in den Fagotten und (zwanzigfach geteilten) Streichern stufenweise die b-Moll-Skala herabsinkt.
Der Sonnenaufgang erglänzt in blendendem A-Dur (»mäßig langsam«), und im Anstieg entfaltet sich das Bergwanderthema erstmals in vollem Umfang. Rauschende Streicherarpeggien begleiten den Eintritt in den Wald, Springbogenfiguren und Glissandi der Streicher stellen das Brausen am Wasserfall dar, und Auf den Blumigen Wiesen hört man das Zwitschern der Vögel.Herdengeläute und Jodel-Juchzen bilden die Geräuschkulisse Auf der Alm, im Fugato geht es anschließend Durch Dickicht und Gestrüpp.
Streicher und Trompeten in den höchsten Lagen evozieren das Flimmern Auf dem Gletscher und scharfe Sekunddissonanzen in aufgeregten Tremoli der Streicher künden Gefahrvolle Augenblicke an. Endlich wird der Gipfel erreicht: Ein stockender Gesang der Oboe drückt Beklemmung in der Brust des Wanderers beim Anblick der unermesslichen Gebirgswelt aus. Nach und nach löst sich diese Beklemmung zu einer Vision. Dann geht es wieder bergab und aufsteigende Nebel künden sich im Heckelphon an.
Die Sonne verdüstert sich allmählich bei mildem Orgelklang, in die Stille vor dem Sturm zucken ferne Blitze von Flöten und Klarinetten, bis sich dann Gewitter und Sturm tumultartig in voller Wucht entladen. Der Sonnenuntergang wird als feierlicher Cantus firmus von Trompeten, Posaunen und Harfen angestimmt, und im Ausklang hält die Orgel mit einem aus dem Sonnenthema abgeleiteten Motiv dankbar Andacht. Wieder wird es Nacht, wiederum in absteigender b-Moll-Skala: Der Kreislauf hat sich geschlossen.
Die Unbekümmertheit, mit der Richard Strauss in seiner Alpensinfonie Naturschilderungen abmalte, Idylle und Gefahr scheinbar in naivem Eins zu Eins beschwor, hat immer wieder Anlass zu Kritik gegeben. Diese Musik sei »eine des Überfliegens, doch in Erdnähe «, spottete Adorno; sie gehe in »bloße Bebilderung über, in Filmmusiken«. Ein Wort, das mit Schärfe die Schwäche von Strauss’ Musik bloßzulegen versucht, weil ihre technische und klangliche Virtuosität in einem krassen Missverhältnis zum gedanklichen Gehalt stehe. Wie aber steht es um diesen Gehalt?
Es lohnt sich, zur Beantwortung der Frage einen Blick zurück auf die allererste Symphonische Dichtung von Richard Strauss zu werfen, Aus Italien – übrigens außer der Alpensinfonie das einzige Strauss’sche Orchesterwerk, das seine Inspiration ganz aus der Natur zieht. Aufgrund einer »erschreckenden Urteils- und Verständnislosigkeit eines großen Teils« des heutigen Publikums, schrieb Strauss im Jahr der Uraufführung von Aus Italien (1887), täusche sich dieses Publikum »über den eigentlichen Inhalt« der Musik, »ja übersehe ihn vollständig«. Dieser Inhalt aber – oder besser: der Gehalt dieser Musik – bestehe »in Empfindungen beim Anblick der herrlichen Naturschönheiten, nicht in Beschreibungen derselben«.
Es kann also nicht Strauss’ Programm gewesen sein, die Alpenwelt musikalisch abzukupfern, gewissermaßen Ansichtspostkarten in Tönen zu malen. Zumal »Programm« für Richard Strauss etwas ganz anderes heißt: »Für mich ist das poetische Programm nichts weiter als der Formen bildende Anlass zum Ausdruck und zur rein musikalischen Entwicklung meiner Empfindungen, nicht, wie Sie glauben, bloß eine musikalische Beschreibung«, heißt es in einem späteren Brief an Romain Rolland.
Wieder dasselbe Gegensatzpaar. Noch ein drittes gilt es zu bedenken. Als Strauss 1911 die Arbeit an der Alpensinfonie aufnahm, tat er das unter dem Eindruck von Gustav Mahlers Tod. »Der Jude Mahler konnte im Christentum noch Erhebung gewinnen«, notierte sich Strauss damals. Und im Unterschied zu Mahler stand für ihn selber fest, dass er (und überhaupt die deutsche Nation) »nur durch Befreiung vom Christentum neue Tatkraft gewinnen« könne. »Ich will meine Alpensinfonie den Antichrist nennen«, heißt es entsprechend: »Anbetung der ewigen herrlichen Natur.«
In solchen Worten manifestiert sich letztlich ein Natur- und Gottesverständnis, wie es uns aus den Romanen und Erzählungen von Adalbert Stifter und Jeremias Gotthelf vertraut ist: Das Anschauen und Bewundern der Natur führt nicht von Gott weg, im Gegenteil, im Anschauen der Natur wird der Mensch zu Gott hingeführt. Genau darum geht es in der Alpensinfonie von Richard Strauss.
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