Ein komponierender Sohn Johann Sebastian Bachs zu sein: Das war sicher eine ambivalente Situation. Zweifellos konnte man vom unermesslichen Können des Vaters lernen und profitieren. Aber da war auch noch ein eigener Weg zu finden, zumal neue Zeiten neue musikalische Herausforderungen mit sich brachten. Die Angehörigen der jüngeren Bach-Generation meisterten diese Aufgabe auf ganz unterschiedliche Weise.
Johann Sebastian Bach steht im Zentrum der wohl einflussreichsten Musikerfamilie des Abendlandes, der von der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Mitteldeutschland zahlreiche Stadtmusiker, Organisten und Komponisten entstammten.
Bachs frühester Vorfahr und Stammvater der weit verzweigten Familie, Veit Bach, wurde 130 Jahre vor ihm, sein letzter namhafter Nachfahre, der Berliner Organist Wilhelm Friedrich Ernst Bach, wurde 74 Jahre nach ihm geboren. Dass Johann Sebastian einmal als bedeutendster Bach in die Musikgeschichte eingehen würde, war dabei zunächst keineswegs ausgemacht.
Wer in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts »Bach« sagte, meinte damit Bachs zweiten Sohn Carl Philipp Emanuel. Johann Sebastian galt bereits zu seinen Lebzeiten als altmodischer Meister des Kontrapunkts, der vor allem Lehrbuchmusik schrieb.
Wenn es um Kunst ging, um Musik zum Anhören, waren seine Söhne Carl Philipp Emanuel und der international tätige Johann Christian diejenigen, die in aller Munde waren. Dabei war Johann Sebastian im eigentlichen Sinn nicht »aus der Mode« gekommen. Modern zu sein, hatte ihn schlicht nie interessiert. Sein Wirken fiel in eine musikalische Umbruchszeit, von der er sich möglichst distanzierte.
Die Anfänge dessen, was man heute Barock nennt, lagen um 1600 in Italien und begannen mit der Entdeckung des Akkords: Was sich zuvor in der Renaissance-Polyphonie aus dem Zusammenwirken mehrerer einzelner Stimmen ergab, wurde im barocken Generalbass auf den Tasteninstrumenten buchstäblich mit zwei Händen »greifbar« und in direkten Zusammenklang umsetzbar.
Die Komponisten des Frühbarock wie Claudio Monteverdi oder Heinrich Schütz waren noch am Opus perfectum et absolutum (am vollkommenen und vollendeten Werk) interessiert, das mithilfe des sich entwickelnden Drucks nicht nur weite Verbreitung finden, sondern auch für die Nachwelt aufbewahrt werden sollte. Im Hoch- und Spätbarock dagegen herrschte eine Massenproduktion, die kaum unter dem Zeichen überzeitlicher Gültigkeit stehen konnte.
Johann Sebastian Bach stand der Sinn nicht nach der Herstellung von solcher Verbrauchsware. Für barocke Verhältnisse ist sein Werkkatalog eher schmal. Statt eine Gattung seriell zu bedienen – wie etwa Vivaldi mit seinen 500 Konzerten und 50 Opern –, arbeitete sich Bach durch verschiedene Formen hindurch, je nach Bedarf seiner Anstellung und je nach Lust.
So schrieb er die meisten Orgelwerke als jugendlicher Organist, die Kammermusik während seiner Zeit als Kapellmeister in Köthen, die Kantaten und Oratorien in seiner Zeit als Thomaskantor in Leipzig. Dabei ist offensichtlich, dass Bach Werkreihen dann abbrach, wenn sich ihre kompositorische Problemstellung erschöpft hatte. Das eindrücklichste Beispiel ist sein Orgelbüchlein: In einem gebundenen Notenbuch hatte Bach die Titel von 164 Kirchenliedern eingetragen, die er alle bearbeiten wollte – aber nach 46 Stücken war die von ihm selbst gestellte Aufgabe ausgereizt.
Aus dem gleichen Grund ist der Jahrgang der Choralkantaten unvollständig. Bach hatte kein Interesse, einen durchaus vorhandenen Bedarf an weiteren Werken zu bedienen, und so könnte man sein Kantatenschaffen – hypothetische Verluste eingerechnet – mit höchstens 300 Werken gemessen an den 1750 Kantaten von Telemann oder den 1400 Kantaten von Christoph Graupner als konzentriert bezeichnen.
Der sich im Barock entwickelnde Gattung der Oper wandte sich Bach mit eigenen Kompositionen nie zu. Dennoch nahm Bach die Musikentwicklungen seiner Zeit wahr, und Wendungen des neuen galanten Stils finden sich hier und da in seinem Schaffen. Zugleich gibt es Anklänge von Renaissance-Kompositionen wie denen eines Palestrina. So entstand Bachs ureigener Stil, der wunderbar zeitlos ist.
Bach war neben seiner Tätigkeit als Komponist und Kantor ein gefragter Lehrer, aber bei seinen eigenen Söhnen unterliefen ihm – musikgeschichtlich betrachtet – Fehleinschätzungen. Seinen ersten Sohn Wilhelm Friedemann hielt er für ein begnadetes Talent, Carl Philipp Emanuel dagegen unterschätzte er.
Für Wilhelm Friedemann legte er ein Klavierbüchlein an und schrieb für ihn sowohl die Inventionen als auch die Triosonaten für Orgel. Wilhelm Friedemann wurde zunächst Organist in Dresden und schrieb auf dieser Stelle für seine Zeit äußerst schwierige und virtuose Klaviermusik. Als Organist an der Marktkirche in Halle seit 1746 lebte er während der letzten Lebensjahre seines Vaters in dessen Nähe – ob ihm dies gutgetan hat, sei dahingestellt.
Der Umstand, dass er ein Jahr nach dem Tod des Vaters heiratete, muss nichts bedeuten, könnte aber dafür stehen, dass Johann Sebastian Ansprüche an ihn stellte, die Wilhelm Friedemann in seiner Entfaltung lähmten. Dafür spricht auch, dass man ihm einen »finstern, harten und sonderbaren Charakter« nachsagte – während er in seiner Musik nach einem leichteren, helleren Stil strebte.
Carl Philipp Emanuel war von den väterlichen Erwartungen wesentlich weniger belastet. Auch er entledigte sich der kontrapunktischen Ansprüche aus dem väterlichen Unterricht, aber er wagte mit den so befreiten Sprachmitteln subjektivere Aussagen als sein Bruder.
In seinen Sinfonien stehen Themen schroff nebeneinander, brechen Verläufe plötzlich ab, finden sich harmonisch interessante Schnitte. Seine im Druck erschienenen Freien Fantasien machten ihn zum Protagonisten der Empfindsamkeit. Mit dieser ästhetischen Ausrichtung hatte Carl Philipp Emanuel über die musikalische Szene hinaus Kontakt zu bedeutenden Geistesgrößen seiner Zeit: Er war bekannt mit Lessing, Klopstock, Matthias Claudius und dem Homer-Übersetzer Johann Heinrich Voß.
Rund 20 Jahre nach diesen Brüdern kamen zwei weitere komponierende Bach-Söhne aus der zweiten Ehe des Vaters zur Welt. Johann Christoph Friedrich war von allen der sesshafteste: Er wurde mit 18 Jahren Hofmusiker in Bückeburg und blieb dort sein Leben lang.
Als Konzertmeister machte er die Hofkapelle zu einer der besten Deutschlands. Er war befreundet mit Johann Gottfried Herder und schrieb mit ihm zusammen Oratorien. Sein Werk, das zu Lebzeiten aus Bückeburg nicht herausdrang, harrt noch der Entdeckung.
Die Kämpfe seiner Brüder um künstlerische und stilistische Selbstbestimmung jenseits des väterlichen Vorbilds focht er so wenig aus wie sein drei Jahre jüngerer Bruder Johann Christian Bach. Dieser schien ein Lieblingssohn des Vaters gewesen zu sein. Als Johann Sebastian starb, war er noch nicht 15 Jahre alt und wurde zu Carl Philipp Emanuel nach Berlin geschickt.
Dort kam Johann Christian mit der Oper in Berührung, die ihn nicht mehr losließ. Er ging nach Italien, konvertierte zum Katholizismus, wurde Organist am Mailänder Dom, komponierte aber gleichzeitig Opern.
Dank seiner leichten, flüssigen Schreibweise wurde er europaweit bekannt und siedelte schließlich nach London über, wo er sich mit dem jungen Wolfgang Amadeus Mozart anfreundete. Sein Einfluss auf Mozart ist nicht zu überhören – und so ist es eine schöne Pointe, dass Wolfgang Amadeus auf diese Weise fast ein Enkelschüler des großen Johann Sebastian Bach geworden ist.