Wer am Abend des 15. Oktober 1928 über den Berliner Kurfürstendamm und die Tauentzienstraße bummelte, wurde in Höhe des KaDeWe Zeuge eines außergewöhnlichen Vorgangs. Auf der großen Freifläche vor dem Bahnhof Wittenbergplatz bauten sich Musiker auf, die eine Militärkapelle zu bilden schienen.
Doch als der Dirigent gegen 21 Uhr den Taktstock hob und seinem Ensemble den Einsatz gab, ertönte Musik, die unmilitärischer nicht hätte sein können. Plötzlich hörte man Klänge, die die Menschen aus den Bars und Tanzcafés kannten: Blues, Foxtrott, Boston, einen Marsch Das Platzkonzert war Teil eines großen Spektakels, das Mitte Oktober 1928 die an Attraktionen ohnehin nicht arme Reichshauptstadt in Atem hielt. »Berlin im Licht« hieß das mehrtägige Festspiel und war eine frühe Form des heutigen »Festival of Lights«.
Oberbürgermeister Gustav Böß hatte mit dem Slogan »Licht lockt Leute« die Richtung vorgegeben: Berlin sollte sich als moderne und zukunftsorientierte Metropole präsentieren. Und so stand die Stadt förmlich unter Hochspannung und wurde allabendlich mittels riesiger Scheinwerfer in gleißendes Licht getaucht. Pausenlos waren die Menschen auf den Beinen, um die illuminierte Hedwigs-Kathedrale, den Reichstag, das Rathaus, die Museumsinsel oder den Wasserfall am Kreuzberg zu bewundern. Man errichtete Lichtsäulen und spannte einen Lichterteppich quer über die Leipziger Straße.
Wer über das nötige Kleingeld verfügte, konnte eigens bereitgestellte Autos, Busse und Straßenbahnen besteigen, die die beleuchteten Sehenswürdigkeiten ansteuerten. Sogar auf der Spree und dem Landwehrkanal tourten eigene »Lichtcorso«-Motorboote. Nach vier Tagen fand in der Kroll-Oper gegenüber dem Reichstag mit dem »Licht-Ball« der feierliche Abschluss des Festivals statt. Als Höhepunkt des Abends gab der bekannte Kabarettist und Schauspieler Paul Graetz den Berlin im Licht-Song zum Besten. Den Veranstaltern war ein echter Coup gelungen, denn das Werk stammte vom künstlerischen Dreamteam des Jahres: Kurt Weill und Bertolt Brecht. Deren Dreigroschenoper war Ende August uraufgeführt worden und bestimmte seither das Stadtgespräch: keine Bar ohne die Moritat von Mackie Messer, kein Tanzlokal ohne Tango-Ballade. Weills kurzer Berlin im Licht-Foxtrott war zwar schon in einer instrumentalen Fassung im Platzkonzert vor dem Ka-DeWe erklungen und hatte dort seine Qualitäten als Ohrwurm bewiesen, doch mit Brechts flapsigem Text wurde er sofort zum Gassenhauer.
Auf dem Höhepunkt der »Goldenen Zwanziger« trafen Weill und Brecht mit ihrem Song bei den Menschen ein positives Lebensgefühl. In sozialer und wirtschaftlicher Hinsicht standen die Zeichen 1928 auf Stabilisierung. Die Konjunktur entwickelte sich nicht schlecht und die Arbeitslosenzahlen waren niedriger als in den vorangegangenen Jahren. Industrieproduktion und Löhne erreichten insgesamt wieder das Vorkriegsniveau – bei deutlich verringerter Wochenarbeitszeit. Bei den Reichstagswahlen im Mai 1928 konnten die republiktreuen Parteien eines ihrer besten Ergebnisse verbuchen, der SPD gelang es sogar, fast 1,3 Millionen Stimmen hinzuzugewinnen. Mit 29,8 Prozent bildete sie die größte Fraktion im Reichstag, während Adolf Hitlers NSDAP mit 2,6 Prozent eine noch weitgehend bedeutungslose Splitterpartei darstellte. Mit der Gründung von Groß-Berlin am 1. Oktober 1920 hatte sich die Einwohnerzahl auf knapp 4 Millionen verdoppelt. Nur in London und New York lebten mehr Menschen. Und der Fläche nach war Berlin gar nach Los Angeles zur zweitgrößten Stadt der Welt geworden.
Und doch schimmerten die Zwanziger nicht durchweg golden. In den heruntergekommenen und völlig überfüllten Mietskasernen mit ihren vielen Hinterhöfen herrschten mitunter menschenunwürdige Zustände. Das Elend der Arbeitslosen und das triste Dasein der Tagelöhner wurde vor allem nachts sichtbar, wie sich die Schauspielerin und Sängerin Trude Hesterberg erinnerte: »Bettelnd standen diese Menschen mit ihren ausgehungerten Kindern an den Ausgängen der Bars und der Tanzdielen, die wie giftige Pilze aus dem Boden schossen. Alles wurde kürzer, die Haare, die Kleider, die Liebe, der Schlaf!«
Die »Goldenen Zwanziger« endeten schlagartig. Ein Jahr nachdem Berlin im Licht uraufgeführt worden war, starb am 3. Oktober 1929 mit Außenminister Gustav Stresemann der einzige Staatsmann, den die Weimarer Republik hervorgebracht hat. »Es ist ein unersetzlicher Verlust, dessen Folgen nicht abzusehen sind«, notierte Harry Graf Kessler in sein Tagebuch. Er sollte recht behalten. Drei Wochen später kollabierte in New York die Börse und die Weltwirtschaftskrise begann. Wiederum sechs Monate später zerbrach die letzte Regierung der Weimarer Republik, die sich auf eine parlamentarische Mehrheit stützen konnte. Der neue Reichskanzler Heinrich Brüning, der sein Amt Ende März 1930 antrat, konnte nur durch Notverordnungen des greisen Reichspräsidenten Paul von Hindenburg regieren. Was folgte, war eine immer rasantere Radikalisierung der politischen Kultur. Deutschland taumelte in die Diktatur.
Und Kurt Weill? Der hatte es irgendwie geschafft, in dieser Zeit das Berliner Requiem, die Kleine Dreigroschenmusik, den Lindberghflug, die Songs zu der verunglückten Heilsarmee-Komödie Happy End sowie ein halbes Dutzend weiterer Bühnenmusiken zu komponieren. »Die Atmosphäre um Happy End brodelte vor Eifersucht«, erinnerte sich Weills Frau Lotte Lenya. »Drei von Brechts Frauen waren dabei: Helene Weigel, ständige Gefährtin und Mutter seines Sohnes Stefan; Carola Neher, Star des Stücks, mit der er ein Verhältnis hatte; und schließlich Elisabeth Hauptmann, Autorin des Stücks, die während der Proben erfuhr, dass Brecht die Weigel geheiratet hatte, und daraufhin einen Selbstmordversuch unternahm. Brecht achtete deshalb sorgsam darauf, dass die beiden Schauspielerinnen gleichwertige Rollen im Stück hatten.«