Für Herbert Blomstedt ist Anton Bruckner »der größte Symphoniker seit Beethoven«. In unserem Interview aus der Saison 2021/22 gibt er Einblicke in seine lebenslange Beschäftigung mit dem Komponisten. Er umreißt Bruckners geistige und klangliche Welt, die nicht zuletzt vom Blick auf die österreichischen Alpen inspiriert sei. Wir erfahren, wie man in den Symphonien Bruckners Seele begegnet und warum man bei ihrer Interpretation akustischen Weihrauch sparsam einsetzen sollte.
Hans von Bülow, der erste Chefdirigent der Berliner Philharmoniker, hat über Anton Bruckner gesagt: »Halb Genie, halb Trottel«. Das ist natürlich sehr polemisch, aber steckt darin auch ein wahrer Kern?
Ein Genie war er tatsächlich, aber kein Trottel. Er war vielleicht, um mit Mahler zu sprechen, der Welt abhandengekommen: etwas unsicher, außerdem nicht besonders anziehend, weshalb er mit den Frauen kein Glück hatte. Aber er war ein Paganini der Orgel, der mit seinen Improvisationen sechsmal hintereinander die Royal Albert Hall in London füllen konnte. Und als Schöpfer ist er völlig einmalig. Ich halte ihn für den größten Symphoniker seit Beethoven.
Tatsächlich scheint das seine Ambition gewesen zu sein: als Symphoniker Großes zu leisten. Woher kam das?
Bruckner kam ja von der Kirchenmusik. Die Kirche hatte für ihn eine große Bedeutung, aber er wollte ihrer Musik nicht sein Leben widmen. Er suchte ein größeres Publikum, als die Kirche es ihm bieten konnte. Er wollte sich den Konzertsaal erobern, er wollte hinaus in die Welt.
Aber klingt seine Religion, der kirchliche Hintergrund nicht in den Symphonien nach?
Bruckners Symphonien repräsentieren die Sehnsucht nach dem Ewigen. Er führt den Hörer in eine Welt, die er sonst nie erreichen würde. Die Symphonien sind allerdings nicht im eigentlichen Sinne religiös oder katholisch. Sie sind allgemeingültig. Das ist weltliche symphonische Musik für den Konzertsaal, was man auch daran sieht, dass er nie Gregorianik oder die katholische Liturgie zitiert. Die Choralmelodien, die es hier gibt, hat Bruckner erfunden.
Was ist das für eine Welt, die Bruckner uns eröffnet?
Es ist die Welt seiner ganz eigenen Vorstellung. Hier trifft man seine Seele. Und er hat diese Welt durch die Musik gefunden, nicht durch die Religion. Deswegen finde ich es auch wichtig, dass man seine Symphonien nicht im engen Sinne katholisch interpretiert, mit akustischem Weihrauch. So religiös er auch war: Sein Glaubensbekenntnis ist die Musik, die Dreifaltigkeit existiert in diesen Momenten nur im Hintergrund. Das hört man auch in der Fünften Symphonie. Er glaubt an die Fuge, an den Hymnus, an die symphonische Art, sich auszudrücken. Mit diesem Bekenntnis bewältigt er seine Lebenskrisen. Mahler dokumentiert in seinen Symphonien seine Krisen, Bruckner überwindet sie. Die Fünfte Symphonie endet mit einem Triumph über die Verzweiflung.
Bruckner ist ja nicht nur durch seine Haltung, sondern auch durch seinen Klang unverwechselbar. Was macht sein Idiom aus?
Bruckner verwendet in seiner Fünften Symphonie eigentlich dasselbe Orchester wie Beethoven, außer dass er mal eine Trompete oder eine Tuba hinzufügt. Aber vom ersten Takt an klingt es völlig anders. Er hat eine sehr weite Sicht. Das bekannteste Beispiel ist vielleicht die Siebte Symphonie, in der die erste Melodie über eine Minute dauert. Das war seine Welt. Es gibt hier sehr lange Linien, wie die Bergketten in St. Florian. Lange Linien, auf und ab, bis zu dramatischen Bergklüften. Mit einem Horizont, der einem sagt: Es gibt da am Ende der Welt etwas Langes und Schönes und Großes, das ewig bleibt. Das, denke ich, hat ihn beeinflusst und sich mit seinen religiösen Empfindungen gekoppelt. Aber er konnte auch anders. Die Sechste ist dafür ein Paradebeispiel. Das Scherzo ist enorm kurz, mit einem ganz knappen Thema, das gar nicht wie eine Melodie wirkt – sehr modern!
Es gibt keinen Komponisten, der heute so sehr mit Ihnen assoziiert wird wie Anton Bruckner. Wie ist das gekommen?
Dazu kann ich Ihnen eine Geschichte erzählen. Ich war noch Student in Stockholm, als 1950 oder 1951 die Wiener Philharmoniker und Wilhelm Furtwängler ein Gastspiel gaben. Auf dem Programm standen Bachs Drittes Brandenburgisches Konzert – mit voller Streicherbesetzung und neun Kontrabässen! – und Bruckners Achte Symphonie. Der Bruckner war natürlich ganz fantastisch. Als Schuljunge in Göteborg hatte ich schon mal ein Autogramm von Furtwängler ergattert, und ich habe dann wieder am Künstlereingang auf ihn gewartet.
Als er kam, war er unwahrscheinlich wütend und sagte zu seiner Begleitung: »Nie mehr Bruckner in Stockholm!« Ich konnte ihn verstehen, denn Furtwängler und die Philharmoniker haben ihr ganzes Herz in diese Musik gelegt, aber das Publikum hat ziemlich indifferent reagiert. Da habe ich mir – etwas übertrieben selbstbewusst – gesagt: »Das werde ich ändern!« Ich habe dann als Dirigent tatsächlich versucht, die kühlen Schweden für Bruckner zu begeistern. Es hat aber wenig geholfen.
Sie sind selbst Schwede und kommen aus einem anderen Kulturraum als Bruckner. Haben Sie sich diese Musik erobern müssen oder war sie Ihnen gleich nahe?
Ich habe mich hier sofort zu Hause gefühlt. Das hat vielleicht mit meinem Temperament zu tun. Ich nehme mir Zeit, um etwas zu erforschen, das macht mir Spaß. Dinge, deren Oberfläche schon alles verrät, interessieren mich weniger. Ich mag das Geheimnisvolle. Am Anfang hat mich nur Bruckners zauberhafter Klang angesprochen, aber als ich seine Musik wirklich studiert und aufgeführt habe, bin ich seiner Größe nahegekommen. Je mehr ich verstanden habe, wie er arbeitet, desto größer ist er für mich geworden.
Wie sehr haben ältere Dirigenten Sie bei der Entdeckung Bruckners inspiriert? Wirken Erlebnisse wie die Begegnung mit Furtwängler in Ihnen nach?
Letztlich sind die Partituren unsere einzige Quelle, unsere einzige Wahrheit. Eugen Jochum war für mich eine Leitfigur, als ich jung war, und er ist es immer noch. Aber ich sehe auch seine Schwierigkeiten, wenn er zum Beispiel das erste Thema der Siebten Symphonie ganz langsam dirigiert. Eigentlich wunderbar, aber dann kommt das zweite Thema, wo es bei Bruckner heißt: »ruhiger«. Das geht aber nicht, wenn man so langsam anfängt, also wird Jochum schneller. Wem soll ich nun folgen? Meinem Idol Jochum oder Bruckner? Natürlich hat der Komponist immer das letzte Wort. Wir Musiker stecken alle in derselben Klemme. Wir haben unsere Lehrer und die großen Interpreten der Vergangenheit, aber unser Leitstern muss immer der Komponist bleiben.
Ist Bruckner schwer zu dirigieren?
Alle große Musik ist schwierig, wenn man sie schön und ehrlich und mit Achtung vor dem Komponisten dirigieren will. Bruckner erfordert außerdem Ruhe, die viele nicht haben. Wir alle sind ja gejagte Menschen in einer hektischen Welt. Deswegen liegt vielen jungen Dirigenten Mahler mehr als Bruckner, weil bei ihm die Abläufe schneller, dramatischer und theatralischer sind. Man braucht Ruhe, um diesen langen Linien nachzufolgen und sie zu genießen.
Aber man muss diese Ruhe ja auch gestalten, damit in diesen weiten Bögen die Spannung erhalten bleibt, damit der Musik nicht der Atem ausgeht. Wie macht man das?
Dazu muss man die Partitur wirklich gut kennen und darf sich nicht beim Umblättern fragen, was als nächstes kommt. Am Anfang einer solchen Linie muss man schon eine Vorstellung von ihrem Ende habe, damit die Proportionen stimmen. Und man darf kein Crescendo zu groß machen. Das ist eine Eigenheit von uns Musikern: Man sieht in den Noten »cresc.« und fängt sofort an, lauter zu spielen, ohne sich zu fragen: wie lange soll die Steigerung dauern? Eine Sekunde oder eine Minute? Das muss man vorher wissen.
In welcher Beziehung stehen Bruckners geistige Welt, sein Klang und die Konstruktion seiner Musik zueinander?
Das ist alles sehr ineinander verwoben. Bruckner hat eine hoch emotionale Musik geschrieben, und der Klang ist enorm sinnlich. Gleichzeitig ist dies eine hochintelligente Musik, in der gewissermaßen mehrere Relativitätstheorien verborgen sind. Bruckners Werke sind von einem überragenden Intellekt getragen, aber – und das ist so wunderbar an ihm – wenn es erforderlich ist, kann er sich auch ganz einfach ausdrücken.
Gerade die Fünfte Symphonie gilt als besonders intellektuell und entsprechend anspruchsvoll zu dirigieren.
Allerdings. Da gibt es mehrere Fugen, Doppelfugen, Fugen zusammen mit einer Choralmelodie – es ist wie drei Eier gleichzeitig auf einem Brett zu balancieren.
Was will uns Bruckner mit dieser Komplexität sagen? Ist sie ein Gleichnis für die Komplexität der Welt? Oder will er einfach sein Können demonstrieren?
Ich glaube, es ist zumindest teilweise so einfach, wie Sie sagen: Daraus spricht die Freude an seinem Können. Er hat ja noch als 37-Jähriger Unterricht bei Simon Sechter genommen, dem Kontrapunkt-Guru in Wien. Bruckner selbst hat die Fünfte Symphonie sein kontrapunktisches Meisterstück genannt. Sie hat ihn viel Mühe gekostet, und er hat hinterher gesagt, so etwas möchte er nie wieder schreiben. Wobei er das nicht ganz ernst meinte, die Arbeit hat ihm auch Freude gemacht. Das besondere an seinem Kontrapunkt ist, dass er so selbstverständlich wirkt. Auch ich kann eine komplizierte Fuge schreiben, das ist kein Problem. Dass sie am Ende ansprechend und natürlich klingt, dass es eine Balance zwischen Komplexität und Einfachheit gibt – das ist schwierig. Das kann nur ein Genie, und Bruckner war ein solches Genie.
Auch wenn Sie sehr anspruchsvolle Musik dirigieren, wirken Sie immer ganz gelöst, geradezu heiter. Wie gelingt Ihnen das?
Die Antwort liegt in der guten Vorbereitung. Man sollte sich als Musiker nicht auf sein Improvisationstalent verlassen, sondern genau wissen, was man tut. Der Preis dafür ist, weniger Werke zu dirigieren, an denen aber gründlich zu arbeiten. Dann bereitet auch komplizierte Musik große Freude.
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