Johannes Brahms‘ Schicksalslied stand erstmals im November 1886 bei den Berliner Philharmonikern auf dem Programm. Seither wurde es knapp 40-mal von den Philharmonikern aufgeführt und war dabei Saisonhighlight und Chefsache.
In der Rückschau erscheint uns Brahms als der große Symphoniker des 19. Jahrhunderts. Doch der gebürtige Hamburger, der sich dank Zielstrebigkeit, Disziplin und Können aus kleinbürgerlichen Verhältnissen zu einem der bestbezahlten Komponisten hochgearbeitet hat, war auch auf anderen musikalischen Terrains erfolgreich.
Ehe er sich als freischaffender Komponist in Wien niederließ, hatte er in verschiedenen Städten als Chordirigent gewirkt und dabei ein untrügliches Gespür für das Genre der Chormusik, insbesondere auch der symphonischen Chormusik, entwickelt. Der Durchbruch als Komponist gelang ihm 1868 mit seinem Deutschen Requiem, es folgten weitere Kompositionen für gemischten Chor und Orchester, darunter das Schicksalslied, in dem Brahms einen Text von Friedrich Hölderlin vertonte. Der Dichter beschreibt den Unterschied zwischen himmlischem und irdischem Dasein: dort selige Ruhe in lichten Höhen, hier ruheloses Umhergetriebensein und Absturz ins Ungewisse.
Ein Kontrast, der geradezu ideale Voraussetzungen für eine musikalische Vertonung bietet. Brahms kreiert für die elysischen Gefilde eine ruhige, schwebende und gleichzeitig sehnsuchtsvolle musikalische Atmosphäre mit einer sehr ausdrucksvollen Harmonik. Dem steht die irdische Welt mit einer dunklen, bedrohlichen, rhythmisch getriebenen Musik gegenüber.
Vor allem das Hin- und Hergeworfensein der Menschen und ihren plötzlichen Sturz ins Ungewisse weiß Brahms mit herabstürzenden Streicherfiguren tonmalerisch eindrucksvoll zu schildern. Während Hölderlins Gedicht den Leser mit dem Sturz ins Ungewisse entlässt, greift Brahms zum Schluss noch mal im Orchester die ruhige Stimmung des Anfangs auf – ein Hoffnungszeichen, das es bei Hölderlin nicht gibt.
Als die Berliner Philharmoniker das Schicksalslied unter der Leitung von Joseph Joachim erstmals im November 1886 aufführten, schwärmte der Kritiker der Vossischen Zeitung von einem Werk »kühnsten Strebens und siegreicher Beherrschung der künstlerischen Mittel, das gleich wenigen anderen geeignet sein dürfte, dem Tonsetzer, der es geschaffen, viele und stets ihm treubleibende Anhänger zu gewinnen«.
Sechs Jahre später erklang die Komposition in einem Benefizkonzert für die philharmonische Pensionskasse, das eigentlich Hans von Bülow leitete. Das Chorwerk wurde bei diesem Ereignis allerdings nicht von Bülow dirigiert, sondern von Siegfried Ochs. Dieser hatte 1882, also im Gründungsjahr der Berliner Philharmoniker, seinen Philharmonischen Chor ins Leben gerufen und ihn innerhalb von fünf Jahren von einer freundschaftlichen Vereinigung von 20 Sängern zu einem aus 185 Mitgliedern bestehenden Spitzenensemble geformt.
Die Konzerte des Philharmonischen Chors galten – wie der zeitgenössischen Presse zu entnehmen ist – als »Saisonereignisse«. Siegfried Ochs war es dann auch, der Brahms‘ Schicksalslied in den folgenden Jahren mit den Philharmonikern und seinem Chor regelmäßig aufführte.
Wegen seines philosophischen Inhalts setzte Ochs es gerne bei Gedächtniskonzerten ein – 1894 zum Tode von Hans von Bülow, 1897 zum Andenken an Brahms, 1902 zur Gedächtnisfeier für Hermann Wolff und 1907 für den verstorbenen Joseph Joachim. Ab 1906 widmete sich ein anderer Dirigent mit einem anderen Chor dem Werk bei den Berliner Philharmonikern: Georg Schumann und die Sing-Akademie, die das Schicksalslied mehrmals mit dem Deutschen Requiem bzw. mit dem Gesang der Parzen und Nänie, zwei weiteren Chorwerken von Brahms, kombinierten.
Im Mai 1922 gehörte die Aufführung des Schicksalslieds und des Deutschen Requiems unter Schumann zu den Festveranstaltungen anlässlich des 40. Geburtstags der Berliner Philharmoniker – zum Gedenken an die verstorbenen Dirigenten und Mitglieder des Orchesters. »Schöner und abgeklärter konnte dieser Nekrolog in Tönen wohl kaum erklingen, als ihn Schumann mit seinen prachtvollen Helfern herausgebracht hat«, hieß es damals in einer Besprechung.
Bis Ende der 1980er-Jahre nahmen sich bei den Berliner Philharmonikern vor allem große Chordirigenten des Schicksalslieds an: Neben Siegfried Ochs und Georg Schumann, die das Werk in regelmäßigen Abständen aufführten, seien hier genannt: Hugo Rüdel mit dem Königlichen Hof- und Domchor, Bruno Kittel und sein Kittel’scher Chor, Karl Forster mit dem Chor der St. Hedwigs-Kathedrale, Hans Hilsdorf mit der Sing-Akademie und Helmuth Rilling und seine Gächinger Kantorei.
Rillings Auftritt wurde von der Presse mit Spannung erwartet, außer dem Schicksalslied standen Brahms‘ Tragische Ouvertüre und Nänie sowie Schuberts As-Dur-Messe auf dem Programm. In den Kritiken hieß es, Rilling habe bei der Tragischen Ouvertüre noch nicht so recht Zugriff auf das Orchester gehabt. Die Aufführung des Schicksalslieds wurde jedoch einhellig gelobt: Der Chor zeigte, so die Welt, »in welche Klanggewalten er vorzudringen vermag. Hier war dann auch Rillings Kontakt mit dem Orchester besser als zu Beginn.«
Nach dem Amtsantritt von Claudio Abbado bekam Brahms‘ Komposition einen neuen Stellenwert. Er, der großer Hölderlin-Verehrer, führte das Werk mehrfach mit den Berliner Philharmonikern auf und stellte es auch immer wieder in neue musikalische Kontexte. Das erste Mal dirigierte er es im September 1989 – Abbado war zu diesem Zeitpunkt noch nicht zum Chefdirigenten gewählt – zum Eröffnungskonzert der Berliner Festwochen, das gleichzeitig ein Gedenkkonzert für den im Juli verstorbenen Herbert von Karajan war.
Vor allem beeindruckte, wie Abbado den orchestralen Schlussteil des Stücks gestaltete, der Hölderlins Sturz ins Ungewisse musikalisch auffängt und auf den ersten Blick versöhnlich scheint: »Den Menschen bleibt das Ungewisse, fern klingt das Elysium«, schrieb der Tagesspiegel. »Das jedenfalls war der Eindruck der Interpretation, die Claudio Abbado mit dem philharmonischen Orchester und dem Ernst-Senff-Chor modellierte.« Und natürlich fehlte das Schicksalslied auch nicht in dem Hölderlin-Zyklus, den Abbado 1993 initiierte – ein künstlerisch wie intellektuell höchst anspruchsvolles Projekt.
»In Berlin ist so etwas möglich, wie nur in wenigen Städten«, meinte der Dirigent damals. Abbado brachte das Schicksalslied zusammen mit Hölderlin-Vertonungen von Wolfgang Rihm, Richard Strauss, György Ligeti und Max Reger auf die Bühne. Das Werk gehörte 1996 zum Programm der Wien-Italien-Tournee und es erklang auch 2002 in Abbados Berliner Abschiedsprogramm – zusammen mit Mahlers Rückert-Liedern und Schostakowitschs King Lear, alles Kompositionen, in denen es um Zweifel, Rückzug und Verunsicherung geht.
Nach Abbado hat bislang nur noch Christian Thielemann das Schicksalslied mit den Berliner Philharmonikern aufgeführt, 2009 zusammen mit Nänie und dem Gesang der Parzen sowie Schönbergs Pelleas und Melisande. Wegen Thielemanns »balsamischer Lesart« – so der Tagesspiegel – hätte diese Aufführung »narkotisches Potenzial« gehabt. Mit Sir John Eliot Gardiner, der seinen Monteverdi Choir mitbringt, nimmt sich nun ein weiterer großer Dirigent unserer Zeit der Komposition an – und setzt damit die besondere philharmonische Aufführungstradition dieses Werks fort.