Autor*in: Tobias Bleek
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Konzerte mit Bruckners Symphonien gehören heute zu den Saisonhöhepunkten der Berliner Philharmoniker. Das war nicht immer so. Der erste Chefdirigent des Orchesters Hans von Bülow weigerte sich zeitlebens, auch nur eine Note des Komponisten aufzuführen.

Weder für die 1882 gegründeten Berliner Philharmoniker noch für ihr Publikum war die Begegnung mit Anton Bruckners eigentümlicher Musik Liebe auf den ersten Blick. Das zeigte sich, als das Orchester am 31. Januar 1887 unter Leitung von Karl Klindworth erstmals eine Symphonie des Komponisten aufführte: die Siebte, eigentlich das erfolgreichste Werk Bruckners, das in diesem Konzert allerdings nur lauwarm aufgenommen wurde. Der alle anderen überstrahlende Leitstern unter den lebenden Komponisten hieß damals Johannes Brahms. In jeder Saison erklangen zahlreiche seiner Werke. Die Konzerte mit Bruckners Kompositionen kann man hingegen an einer Hand abzählen. 

Bis zu seinem Tod im Oktober 1896 setzten die Philharmoniker nur noch eine einzige seiner Symphonien aufs Programm: die Dritte unter Leitung des versierten Bruckner-Dirigenten Hermann Levi im Herbst 1893. Wieder blieb der Erfolg aus, das Publikum verließ noch während des Konzerts in Scharen den Saal. Besser war die Resonanz auf Aufführungen von Bruckners Te Deum 1891 und 1894. Der Komponist – beide Male eigens aus Wien angereist – war von der »hochgenialen Wiedergabe« begeistert, dankte dem Dirigenten Siegfried Ochs vielmals und bat ihn, dem »idealen Meister Hans von Bülow« seinen »tiefsten Respekt« zu übermitteln. Den ersten Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker – ein großer Brahms-Liebhaber und dezidierter Bruckner-Kritiker – ließen solche Avancen jedoch kalt. Bis an seine Lebensende dirigierte Bülow keine einzige Note Bruckners und bezeichnete den Komponisten in einem vielzitierten Diktum als »Halbgenie + Halbtrottel«. 

Erst unter Arthur Nikisch, ab 1895 Bülows Nachfolger, änderte sich diese Situation grundlegend. Der gebürtige Ungar hatte 1873 als Geiger an der Wiener Uraufführung von Bruckners Zweiter Symphonie mitgewirkt, dirigierte elf Jahre später am Pult des Gewandhausorchesters die spektakuläre Premiere der Siebten und agierte zeitlebens als wirkungsmächtiger Fürsprecher des Komponisten. Ebenso behutsam wie konsequent sorgte Nikisch dafür, dass Bruckner in Berlin ins Zentrum des Repertoires rückte. So spielten die Berliner Philharmoniker mehrere Symphonien (Nr. 2, 4, 5, 8 und 9) erstmals unter seiner Leitung, lediglich um die Erste und Sechste Symphonie machte Nikisch einen Bogen. Als er im Januar 1922 überraschend starb, war klar, dass mit seiner Amtszeit bei den Philharmonikern eine Bruckner-Tradition begonnen hatte, die es von nun an fortzuführen galt.

Furtwängler, der charismatische Bruckner-Dirigent

Die beiden Dirigenten, die die Orchestergeschichte in den folgenden sechs Jahrzehnten maßgeblich prägten, stellten sich auf je eigene Weise dieser Aufgabe. Wilhelm Furtwängler feierte im Oktober 1922 mit der Siebten seinen Einstand als Chef der Berliner Philharmoniker. Mit einer vom Publikum und der Kritik gefeierten Aufführung der Vierten Symphonie hatte er bereits vier Jahre zuvor seine Visitenkarte als charismatischer Bruckner-Interpret abgegeben. In einer Kritik heißt es: »Wie er die Rhythmen belebt, beschwingt, die Schattierungen und Klangfarben haarscharf genau gegeneinander abzuheben versteht, wie er die Partitur (ohne Noten!) beherrscht und ausdeutet, das ist bewundernswert, ist genial. Wie er aber das Orchester zur restlosen Hingabe anfeuert und sein sprühendes Temperament auf die Spieler einwirken lässt, das grenzt an’s Unbegreifliche.« Bis zu seinem Tod 1954 setzte Furtwängler Bruckners Symphonien (mit Ausnahme der ersten beiden) regelmäßig aufs Programm, dirigierte sie nicht nur in Berlin, sondern auch auf Tourneen und sorgte so dafür, dass die Berliner Philharmoniker ihren Ruf als Bruckner-Orchester auch international festigten. 

Auch in der Ära Karajan spielte Bruckner eine zentrale Rolle. Kurz vor Furtwänglers Tod hatte er im November 1954 mit einer Aufführung der Neunten Symphonie ekstatischen Jubel erzielt – ein Ereignis, das das Orchester vermutlich darin bestärkte, ihn wenige Wochen danach zum Chefdirigenten zu wählen. »Karajan hat heute das, was man den großen Atem nennt«, konstatierte der einflussreiche Kritiker Heinz Hans Stuckenschmidt begeistert: »Sein Musizieren geht vom Phänomen des Klingens aus, nicht von Rhythmus und Zeitdisposition, die sich erst sekundär einstellen.« 

»Tradition ist nicht das Bewahren der Asche, sondern das Schüren der Flamme«, lautet ein berühmtes Bonmot, das in unterschiedlichen Formulierungen kursiert und ursprünglich wohl auf eine Rede des französischen Politikers Jean Jaurès zurückgeht. Dass sich bei Bruckner die Aufgabe, auf seine Musik immer wieder neu zu blicken und die Aufführungstraditionen kritisch zu hinterfragen, in besonderer Weise stellt, hängt nicht zuletzt mit der komplexen Genese und Überlieferungsgeschichte der Symphonien zusammen. Viele existieren in mehreren Fassungen und erschienen im Erstdruck häufig zunächst in stark bearbeiteter Form mit Strichen, Instrumentationsretuschen sowie zusätzlichen Vortragsbezeichnungen. Die sogenannte »Neue Gesamtausgabe« machte es sich zur Aufgabe, ab 1951 »alle Werkfassungen […] ohne jegliche Wertung« zugänglich zu machen. Vor einigen Jahren begann auf der Basis aktueller Forschung und neuer Quellenfunde ein dritter Anlauf – diesmal mit gleich zwei konkurrierenden Gesamtausgabeprojekten.

Kirill Petrenko dirigiert Bruckner und Rihm

Neue Perspektiven auf Bruckner

Das Anliegen, eine Aufführungstradition lebendig fortzuschreiben und den Blick auf Bruckner zugleich zu erneuern, kennzeichnet Sir Simon Rattles Auseinandersetzung mit Bruckners Symphonik. Im Gegensatz zu Claudio Abbado, der während seiner Chefdirigentenzeit nur selten Bruckner dirigierte, setzte Rattle die Neunte Symphonie bereits zu Beginn seiner ersten Saison 2002/03 aufs Programm. Wie viel es gerade noch an diesem unvollendeten Spätwerk zu entdecken gibt, machte er zehn Jahre später deutlich. Im Februar 2012 präsentierte er mit dem Orchester in Berlin und New York die Neunte in einer viersätzigen Version mit einem aus Bruckners Manuskripten vervollständigten Finale. In seiner neuen Gestalt offenbart der Satz neben Bruckner’scher Größe viele verstörende Momente. Aber, so Simon Rattle, »alles, was an diesem Finale merkwürdig ist, ist zu hundert Prozent Bruckner. Und wir sehen hier den Schrecken, die Furcht und die Passion, die er zu dieser Zeit durchlebte.«