Sie waren zwei Giganten: Anton Bruckner und Gustav Mahler. Beide Symphoniker, die ihre Werke in unbekannte Längen bis ins Monumentale führten, beide ohne rechte Vorgänger und Nachfolger. Sie gehörten zu den letzten großen Romantikern, und doch zeigten sie fundamental unterschiedliche Ausdruckswelten. So waren sie sich nah und fern zugleich. Wir blicken auf die Lebenswege dieser so (un-)gleichen Symphoniker.
Als Anton Bruckners Sechste Symphonie 1899 zur Uraufführung kam, war ihr Schöpfer bereits über zwei Jahre tot. Das ganze Werk hat er lediglich in einer Probe gehört, öffentlich aufgeführt wurden zu seinen Lebzeiten nur die beiden Mittelsätze und zwar am 11. Februar 1883 im Wiener Musikvereinssaal unter der Leitung von Wilhelm Jahn. Erst 16 Jahre später, am 26. Februar 1899, dirigierte Bruckners Komponistenkollege Gustav Mahler die erste vollständige Aufführung, für die er das Werk allerdings stark kürzte. Trotz dieser Eingriffe gehörte Mahler zu den treuen Unterstützern Bruckners, selbst nach der desaströsen Uraufführung von dessen Dritter Sinfonie. »Größe und Reichtum der Erfindung« bewunderte er an Bruckners Musik, und auch dessen Klangsprache imponierte ihm, weshalb er bei der Bearbeitung der Sechsten Symphonie kaum Retuschen an der Instrumentierung vornahm.
Anton Bruckner und Gustav Mahler: Hier treffen zwei Komponisten aufeinander, die beide zu den zentralen Symphonikern der (Spät-)Romantik gehören, die beide höchst eigenwillige, individuelle Wege einschlugen, die verschieden klingen – und die sich in vielem doch so ähnlich sind beziehungsweise bei denen es eine eigenartige Parallelität von gleichzeitig Verbindendem und Trennendem gibt. Beide hatten äußerst komplexe, teils widersprüchliche Persönlichkeiten und haderten mit ihren Mitmenschen.
Mahler, der sich selbst nie als besonders jüdisch wahrnahm und eher mit einer Art Naturreligion sympathisierte, sah sich immer wieder mit dem damals in Wien gärenden Antisemitismus konfrontiert. Bruckner stieß vor allem mit seinem Charakter auf Ablehnung. Er galt vielen als ungebildet, intellektuell unbedarft, und einfältig. Hinzu kam ein Benehmen, das oft linkisch und unsicher und bisweilen auf groteske Weise devot war, gleichzeitig war er aber auch hochgradig ehrgeizig und aufbrausend. Damit war er ein dankbares Themen für zeitgenössische Karikaturisten, die ihn oft in seinen für ihn so typischen, viel zu kurzen Hosen darstellten.
Bruckner und Mahler verband zudem das unermüdliche Streben nach Anerkennung als Komponisten. Als ausübende Künstler waren beide erfolgreich, jedoch – zumindest zunächst – nicht als Komponisten. Bruckner sorgte als einer der herausragenden Orgelvirtuosen seiner Zeit mit phänomenalen Improvisationskünsten für Furore, Mahler gehörte zu den prägendsten Dirigentenpersönlichkeiten, war zehn Jahre lang Direktor der heutigen Wiener Staatsoper. Als Komponisten jedoch mussten beide um die öffentliche Anerkennung ringen. Auch weil ihre so neuartigen Werke das Publikum schlicht überforderten. Mit dem berühmt gewordenen Satz »Meine Zeit wird kommen!« trat Mahler seinen Kritikern vermeintlich selbstbewusst entgegen. Dass er einigen seiner frühen Symphonien außermusikalische Programme voranstellte, lässt jedoch vermuten, dass es bei ihm einen tief verwurzelten Wunsch nach Verständnis und Anerkennung gab – auch wenn er diese Programme später wieder einkassierte.
Bruckner, der große Zögerer und Zauderer, ging damit völlig anders um als Mahler. Er begegnete dem Unverständnis von Publikum und Kritikern damit, dass er seine Werke immer wieder umarbeitete, um sie sozusagen »bekömmlicher« zu machen. Das reicht von kleineren Retuschen an der Instrumentierung über Kürzungen und Änderung einzelner Passagen bis hin zur Neukomposition ganzer Sätze. Von seinen Symphonien Nr. 3 und Nr. 4 liegen nicht weniger als drei Fassungen vor (vom Adagio der Dritten sogar vier), von den Symphonien Nr. 1, Nr. 2 und Nr. 8 gibt es jeweils zwei Fassungen, was die Brucknerforschung bis heute vor erhebliche Probleme stellt.
Zwar feilte auch Mahler fortwährend an seinen Partituren, das betraf in der Regel jedoch eher aufführungspraktische Korrekturen an der Dynamik oder der Orchestrierung, die Mahler meist bei der ersten Probe oder im Umfeld spezieller Konzerte mit bestimmten Orchestern oder Dirigenten vornahm. Änderungen an der kompositorischen Substanz fanden, wenn überhaupt, während der initialen Werkgenese statt: So war beispielsweise der Vokalsatz Das himmlische Leben zunächst als Teil der Dritten Symphonie vorgesehen, schlussendlich fungierte er dann aber als Finale der Vierten. In der Regel gab es aber keine tiefgreifenden Modifikationen mehr wie bei Bruckner, war die Werkgestalt einmal gefunden.
Auch in der Tonsprache beider Komponisten gibt es jene merkwürdige Mischung aus verbindenden Elementen, die im Detail jedoch wiederum große Unterschiede offenbaren. Beide pflegten, dem Zeitgeschmack entsprechend, einen Hang zum Gigantismus, sowohl was die zeitliche Ausdehnung – ihre Symphonien gehören zu den längsten der Musikgeschichte – als auch was die gigantomanische Orchesterbesetzung angeht. Doch hier beginnen die Unterschiede: Der Organist Bruckner setzte den riesigen Orchesterapparat wie Register der Orgel ein, um seinen sich wiederholenden Themenblöcken eine jeweils wechselnde Klangcharakteristik zu verleihen.
Mahler splittete den Orchestersatz mit einem polyfonem Feingewebe und einer für die gewaltigen Besetzungen bisweilen erstaunlichen kammermusikalischen Transparenz auf. Beide eint zudem ein gewisser Hang zu Pathos, Erhabenheit und Prachtentfaltung. Die grandiosen Apotheosen in Mahlers Symphonien, wie etwa im Chorfinale der Zweiten, der »Auferstehungssymphonie«, sind ohne Bruckners gewaltige Steigerungswellen kaum denkbar.
Bei beiden findet sich zudem eine ausgeprägte Diskontinuität im thematischen Entwicklungsprozess, die zu ihrem unverkennbaren persönlichen Stil beiträgt. Bei Mahler kollabiert das musikalische Geschehen nach spannungsreichen Entwicklungen und Steigerungen immer wieder auf seinen Höhepunkten. Bei Bruckner trennen zahllosen Generalpausen die klar konturierten thematischen Blöcke hart voneinander. Während Bruckners Musik dadurch ihren so typischen, eher klangflächenartigen statischen Charakter erhält, ist Mahlers symphonische Arbeit von stetiger Entwicklung und Veränderung geprägt – ganz wie die Natur, die Mahler als Vorbild und Inspiration diente.
Und so stehen Mahler und Bruckner, die fremden Vertrauten, am Ende einer Epoche, führen die Gattung der Symphonie auf einen letzten, einsamen Höhepunkt. Beide ohne rechte Vorgänger und Nachfolger, sich gleichzeitig nah und fern.
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