Arthur Nikisch war ein leidenschaftlicher Bewunderer Anton Bruckners – zu einer Zeit, als der Komponist noch um seine Anerkennung rang. Der Dirigent setzte sich voller Begeisterung und sehr erfolgreich für dessen Musik ein. Mit der Uraufführung der Siebten Symphonie verhalf Nikisch Bruckner zum Durchbruch.
Als Anton Bruckner 1873 die gegen viele Widerstände durchgesetzte Uraufführung seiner Zweiten Symphonie bei den Wiener Philharmonikern dirigierte, wurde ihm der Premierenerfolg bald von einer Rezension in der Abendpost verdorben. Deren Kritiker mokierte sich über die auffallend häufigen Generalpausen in Bruckners Symphonie, »ein Mittel, von welchem die großen Meister mit Recht nur selten Gebrauch gemacht haben«. Diese spitze Bemerkung trug der Zweiten den lang anhaftenden Beinamen »Pausen-Symphonie« ein, nicht zu ihrem Vorteil. Ein 18-jähriger Musiker, der bei den zweiten Violinen der Philharmoniker mitspielen durfte, fragte Bruckner nach dem Sinn der irritierenden Pausen. Und Bruckner erklärte ihm, er müsse erst tief Atem holen, wenn er etwas Bedeutungsvolles zu sagen habe.
Der neugierige junge Geiger hieß Arthur Nikisch, ein Ungar und Absolvent des Wiener Konservatoriums. Bruckner konnte damals kaum ahnen, dass dieser enthusiastische Musikstudent in ein paar Jahren schon sein wichtigster Interpret und Fürsprecher werden sollte. Bruckner, der in Wien um jede Aufführung seiner Symphonien betteln und bangen musste, nannte ihn später sogar seinen »Lebensretter«.
Mittlerweile hatte sich Nikisch aufs Dirigieren verlegt und war als Chordirektor an das Leipziger Stadttheater gegangen, dann im Handumdrehen zum Ersten Kapellmeister aufgestiegen. Im Frühjahr 1884 lernte Nikisch die gerade erst vollendete Siebte Symphonie Anton Bruckners kennen. Und geriet völlig aus der Fassung: Seit Beethoven sei nichts Vergleichbares geschrieben worden! Nikisch gab sein »heiliges Ehrenwort«, das Werk in Leipzig einzustudieren: »Ich halte es für mich von nun an für meine Pflicht, für Bruckner einzutreten.«
Der in Wien geradezu verfolgte Komponist konnte sein Glück kaum fassen und bedankte sich mit einem so überschwänglichen wie untertänigen Brief: »Sie sind jetzt ja doch der Einzige, der mich retten kann und Gott sei Dank auch retten will«, bekannte Bruckner. »Lebenslänglich werden Hochderselbe den dankbarsten Menschen an mir haben, wie ich seither Ihre Kunst und Ihr nobles Wirken tief bewundert habe. Hoch! Hoch! Hoch!, edler, wahrer Künstler!«
Doch musste Bruckner noch quälend lange auf den Tag der mehrfach verschobenen Uraufführung warten. »Wie klingt das Werk mit Orchester gespielt?«, fragte er unruhig nach. Und wenige Wochen später: »Waren schon Proben? Wie klingt die Symphonie?« Nikisch antwortete ihm postwendend: »Das Werk ist sehr schwer und muss daher sorgfältig studiert werden. Wir werden im Ganzen fünf Proben für die Symphonie haben; ich glaube das wird genügen. Einige Stellen werden Sie ändern müssen in der Instrumentation, da sie unpraktisch geschrieben sind und nicht schön klingen.«
Nikisch war es auch, der den Komponisten überredete, den dramaturgischen Durchbruch im Adagio, sozusagen den Gipfelpunkt des langsamen Satzes, mit dem Einsatz von Beckenschlag, Triangeltremolo und Paukenwirbel effektbewusst zu verstärken. Ohnehin verstand sich Nikisch nicht als Verwalter, sondern als Gestalter der Partitur: »Der moderne Dirigent ist ein Neuschöpfer: Darin beruht die Selbständigkeit und der produktive Charakter seiner Kunst, darum spielt die Individualität des Orchesterleiters heute eine so eminente Rolle.«
Am vorletzten Tag des Jahres 1884 dirigierte Arthur Nikisch endlich die ersehnte Uraufführung der Siebten Symphonie: allerdings nicht im eher konservativ programmierten Gewandhaus, sondern mit demselben, in Konzert und Theater doppelt fungierenden Orchester in einem Opernabonnement. »Soll man den Eindruck kurz schildern, den das Werk hervorgerufen hat«, meldete sich ein Korrespondent aus Leipzig, »so müsste man sagen: Anfangs Befremden, dann Fesselung, dann Bewunderung, schließlich Begeisterung; das war die Stufenleiter.«
Dem in Wien angefeindeten und verhöhnten Bruckner bescherte diese Premiere ein lang entbehrtes Erfolgserlebnis, noch dazu im Ausland! »Da stand er nun in seinem bescheidenen Gewande vor der erregten Menge und verbeugte sich hilflos und linkisch«, berichtete ein anderer Kritiker. »Bald zuckte es wehmütig um den Mund des alten Herrn wie von mühsam unterdrückter Rührung, bald leuchtete es gar wundersam in seinen Augen auf.«
Arthur Nikisch blieb seinem heiligen Schwur, »für Bruckner einzutreten«, treu. 1895 übernahm er nach Zwischenstationen in Boston und Budapest gleichzeitig die Leitung des Leipziger Gewandhauses und der Berliner Philharmoniker. Während er in Leipzig als Heimkehrer begrüßt wurde, im neuen Amt vor seinem alten Orchester, hatte er das Berliner Orchester noch nie dirigiert: Er debütierte gleich als Chefdirigent!
Nach Bruckners Tod am 11. Oktober 1896 setzte er in beiden Städten das Adagio, die »Trauer-Musik« aus der Siebten Symphonie aufs Programm. »Also wieder ein Tonkünstler, der erst sterben musste, ehe die schäbige Musiktreibewelt sich ernstlich mit seinen Werken beschäftigt!«, lautete der Kommentar in der Neuen Berliner Musikzeitung. Die Philharmoniker waren in den vorangegangenen Jahren mit vereinzelten Bruckner-Darbietungen auf kühle Abneigung oder offene Ablehnung gestoßen, etwa bei der Siebten Symphonie oder schlimmer noch bei der Dritten, als die Hörerinnen und Hörer den Saal schon mitten im Konzert scharenweise verließen.
Zu allem Unglück hatte auch noch Nikischs Vorgänger Hans von Bülow mit der einprägsam boshaften Formel »Halbgenie + Halbtrottel« ein scheinbar unausrottbares Vorurteil gegen Bruckner etabliert. Aber Nikisch ließ sich nicht beirren, realisierte mit den Philharmonikern Erstaufführungen der Fünften, Zweiten, Neunten und Achten Symphonie – und konnte im Leipziger Gewandhaus obendrein in der Saison 1919/20 den ersten Bruckner-Symphonien-Zyklus der Konzertgeschichte durchsetzen.
Nach der Siebten hielt er eine Ansprache an das Publikum: »Der arme Meister! Wenn er dies hätte erleben können! Er hat ein monumentales Werk nach dem anderen geschaffen. Kein Mensch hat sich um ihn gekümmert. Wenn ihm einer gekommen wäre und ihm gesagt hätte: ›Du, sei nicht verzagt, es gibt eine Stadt in Deutschland, in der – und zwar in nicht zu ferner Zeit – deine sämtlichen Symphonien innerhalb eines Konzertwinters zur Aufführung gelangen‹, er hätte ihn für verrückt erklärt, oder vor Freude hätte er nicht gewusst, was er sagen sollte.«
Anders als alle seine berühmten Nachfolger, von Furtwängler bis Petrenko und Nelsons, hat Arthur Nikisch nur ganz wenige Tondokumente hinterlassen und keine einzige Aufzeichnung seiner legendären Bruckner-Interpretationen. Und so sollten sich die pessimistischen Worte bewahrheiten, mit denen der Dramatiker Gerhart Hauptmann 1922 seinen Nachruf auf Arthur Nikisch beschloss: »Den nach uns Kommenden wird das herrliche Musikphänomen Nikisch weder vorhanden sein, noch vorhanden gewesen sein. Immer wieder, wie seltsam und schmerzlich dieser Gedanke!«
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