Bachs Goldberg-Variationen sind ein musikalischer Gipfelpunkt, den nahezu alle bedeutenden Pianistinnen und Pianisten im Laufe der Zeit zu erklimmen versuchten. Über ein faszinierendes Stück, das bis heute Rätsel aufgibt.
Im Jahre 1741 erschien beim Nürnberger Notenstecher Balthasar Schmid ein neues Werk von Johann Sebastian Bach: Aria mit verschiedenen Veraenderungen vors Clavizimbal mit 2 Manualen Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung verfertiget. Man gab diesem Werk später den handlicheren, schöneren und fantasieanregenden Titel Goldberg-Variationen.
Er hängt zusammen mit dem Entstehungsanlass, jedenfalls wenn man Johann Nikolaus Forkel glaubt, dem ersten Biografen des Komponisten. Seinem 1802 veröffentlichten Buch zufolge sind die Goldberg-Variationen »der Veranlassung des ehemaligen russischen Gesandten am Chursächs. Hofe, des Grafen Kaiserling zu danken.« Der Graf kränkelte viel und hatte dann, so Forkel, nicht selten schlaflose Nächte. Johann Gottlieb Goldberg, der Privatmusikus des Grafen, »der bey ihm im Hause wohnte, musste in solchen Zeiten in einem Nebenzimmer die Nacht zubringen, um ihm während der Schlaflosigkeit etwas vorzuspielen. Einst äußerte der Graf gegen Bach, dass er gern einige Clavierstücke für seinen Goldberg hab möchte, die so sanften und etwas munteren Charakters wären, dass er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte.«
Die Variationen trügen ihren populären Namen demzufolge nach ihrem mutmaßlichen ersten Interpreten. Woher Forkel diese Geschichte hat, weiß niemand; vielleicht wurde sie ihm von Bachs ältesten Söhnen erzählt, die aber zur Zeit der Entstehung des Werks längst nicht mehr in Leipzig lebten. Man hat Verschiedenes gegen diese Erzählung eingewendet: Warum hat Bach das Werk nicht Kaiserling gewidmet? Hat Bach wirklich ein Werk von teilweise immensen spieltechnischen Schwierigkeiten und eminenter Ausdruckstiefe seinem Schüler Johann Gottlieb Goldberg anvertraut, der im Jahr 1741 erst 14 Jahre alt war?
Diese Einwände verweisen Forkels Erzählung noch nicht in das Reich der Erfindung. Zum einen trägt kein Teil der Clavieruebungen eine Widmung. Zum anderen liegen die technischen und interpretatorischen Herausforderungen einiger Variationen jenseits des damals Gängigen – vieles ist übrigens auch nicht so arg schwer –, aber sollte man von einem Werk, das Bach in die Reihe seiner Clavieruebungen als vierten Teil aufnahm, etwas anderes erwarten?
Forkels Geschichte wird oft süffisant verfälscht, und zwar dahingehend, der Graf hätte Musik zum Einschlafen bestellt – selbst Glenn Gould, der lange als der beste Interpret des Werkes galt, las aus Forkels Bericht, dass die Variationen als »beruhigende Schlafmittel« bestellt worden wären.
Tatsächlich sagt Forkels Bericht das Gegenteil, denn der Graf bestellte ja »einige Clavierstücke … dass er dadurch in seinen schlaflosen Nächten ein wenig aufgeheitert werden könnte«. Chronische Schlaflosigkeit ist eine Qual und kann zu Depressionen führen. Die Bitte des Grafen ist daher keineswegs leichtsinnig, sondern hat geradezu eine mythologisch-biblische Dimension: »So oft nun der böse Geist von Gott über Saul kam, nahm David die Harfe und spielte darauf mit seiner Hand. So wurde es Saul leichter, und es ward besser mit ihm, und der böse Geist wich von ihm.«
Der Bericht aus dem 16. Kapitel des Ersten Buchs Samuel galt im Barock als eine der zentralen Quellen zur seelischen Wirkung von Musik. Der Musikwissenschaftler Rolf Dammann fasst in seiner großen Studie zum Musikbegriff im deutschen Barock zusammen: »Im Besonderen sind es Melancholie, Wahnsinn und Jähzorn, denen aus der Musik wirksame Gegenkräfte erwachsen.«
Die Goldberg-Variationen sind also auf der einen Seite ein Werk, zu dessen Konzeption eine seelenbewegende, oder wie es zu Bachs Zeiten hieß, »gemüths-ergetzende« Wirkung gehört. Bereits in der Aria, einer geschwungenen, von Pathos befreiten Sarabande, ist der »sanfte und etwas muntere Charakter«, den sich der Graf wünschte, hörbar, und er kehrt auch in verschiedenen Variationen wieder.
Für Bach wird indes diese seelische Wirkung von Musik nicht einfach durch den komponierten Affekt hergestellt. Sie wurzelt für ihn vielmehr in Analogien zur »nach Maß, Zahl und Gewicht geordneten« Welt und Natur: In den musikalischen Intervallen finden sich, barockem Denken zufolge, die gleichen Zahlenverhältnisse wie in der Astronomie und Natur.
So wird das Affekt-Spektrum der Goldberg-Variationen zugleich von rationalen Ordnungen getragen: Die 30 Variationen sind in zehn Dreiergruppen angeordnet; innerhalb dieser Gruppen ist die letzte Variation immer ein Kanon, wobei das jeweilige Einsatzintervall der Kanon-Stimme von der Prime bis zur None wächst; die letzte Dreiergruppe wird vom berühmten Quodlibet beschlossen, in dem Bach zwei Volksliedmelodien kontrapunktisch miteinander verflicht.
Die zweite Variation der Dreiergruppe ist hingegen meist sehr virtuos – vor allem in diesen Variationen laufen die Hände oft ineinander und erfordern das zweite Manual des Cembalos.
Die erste Variation jeder Dreiergruppe ist meist eine Charaktervariation, wobei zum Beispiel die 16. Variation – als erstes Stück der zweiten Hälfte des Werks – im Stil einer französischen Ouvertüre gestaltet ist mit langsamem, von punktierten Rhythmen geprägtem ersten und raschem, fugiertem zweiten Teil. Natürlich handhabt Bach dieses Schema höchst abwechslungsreich, führt das Charakteristische einer ersten Variation in der folgenden virtuosen Variation weiter oder lässt dem Spieltrieb gegen Ende freien Lauf.
All diese Kanonkünste und Affektwandel erreicht Bach nicht, indem er die Melodie variiert, die selbst bereits ein höchst differenziertes Gebilde und keineswegs ein Rohstoff ist. Die Grundlage der Goldberg-Variationen bildet ihre Bass-stimme. Deren erste acht Töne waren spätestens seit Monteverdi eine bekannte Formel und als ostinater Bass im ganzen Abendland beliebt für Variationswerke.
Die Kombination eines gewissermaßen »antiken« Basses mit einer modern geformten, galanten und üppig verzierten Melodie ist bereits eine geradezu manierierte Formulierung – Alt und Neu, Gemeinplatz und Individualität, Zahl und Affekt kombinierend – und wenn mal der eine, mal der andere Aspekt der Aria in den Vordergrund des Variations-geschehens tritt, steht neben den konkreten Noten auch diese eigentümliche Konfiguration buchstäblich auf dem Spiel.
Das betrifft besonders die ersten Variationen einer Dreier-gruppe: Die Variationen 10 und 22 etwa sind fugierte, imitatorische, mithin betont »rationale« Gebilde, während die berühmte 25. Variation den Affekt abgründig vertieft, wenn sie die Gelenke des Basses wie der Melodie über den vorgegebenen harmonischen Rahmen hinaus dehnt und verrenkt.
Die Goldberg-Variationen sind für ein zweimanualiges Cembalo geschrieben, die virtuosesten Variationen rechnen mit sich kreuzenden Linien, bei denen sich die Hände auf einem Manual ständig ins Gehege kämen. Anders als die Symphonieorchester haben sich die Pianisten Bachs Klavierwerke nie von den Vertretern der historisch informierten Aufführungspraxis wegnehmen lassen: Die spezifischen Schwierigkeiten der Goldberg-Variationen wurden zu Herausforderungen, die der 22-jährige Glenn Gould im Jahr 1955 zum allgemeinen Erstaunen als erster wahrhaft makellos und mit hinreißendem Schwung bewältigte.
In seiner zweiten Aufnahme von 1982 spielt er besonnener, zugleich auch kauziger – aber so respekteinflößend, dass sich kaum ein anderer Pianist an das Werk herantraute. Im Rahmen von Bach-Gesamtaufnahmen entstanden zwar ebenfalls hervorragende Interpretationen von András Schiff, Murray Perahia, Evgeni Koroliov oder Angela Hewitt, aber erst mit Martin Stadtfelds wegen einiger Eingriffe ins Stimmgefüge vieldiskutierter Debüt-Aufnahme von 2003 – er war damals wie Gould erst 22 Jahre alt – wurden die Goldberg-Variationen zu einer Art musikalischer Visitenkarte: Aus dem Nichts etwa kam 2007 die amerikanische Pianistin Simone Dinnerstein mit ihrer international beachteten Aufnahme, mit der sie ihre bislang eher lokal verlaufene Karriere nach einer Babypause wieder aufnahm.
Die italienische Pianistin Beatrice Rana nahm 2017 auf ihrer zweiten CD die Goldberg-Variationen auf und betonte ihre private Nähe zu diesem Werk. Lang Lang hat den Weg zu seiner Interpretation der Goldberg-Variationen gar mit einem Film dokumentieren lassen. Vielleicht zeigt dieser Drang zum persönlichen Bekenntnis, wie stark gerade diese intime Musik noch immer die Seele bewegt, wie tief sie das Innerste des Menschen trifft – aber genau das hatte ja Bach beabsichtigt und sich Graf Kaiserling gewünscht!
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