Maeterlincks Schauspiel Pelléas et Mélisande ist ein Hauptwerk des Symbolismus. Diese künstlerische Strömung bot der harten, unerbittlichen Realität des ausgehenden 19. Jahrhunderts eine faszinierende Gegenwelt. Voller poetischer Schönheit war sie, voller mystischer Andeutungen und sinnlicher Traumbilder.
Eine Quelle im Wald, ein altes Wasserschloss, der »Brunnen der Blinden«, eine Grotte am Strand, ein modriger Gewölbekeller – das sind die Schauplätze von Maurice Maeterlincks Pelléas et Mélisande. Das Drama entführt die Zuschauer in eine düstere, rätselhafte Märchenwelt: Prinz Golaud begegnet im Wald einer schönen, geheimnisvollen Frau, die er auf sein Schloss mitnimmt und heiratet. Mélisande aber fühlt sich dort fremd, nur zu Golauds Halbbruder Pelleas fasst sie Vertrauen. Das weckt die Eifersucht ihres Gatten. Er erschlägt Pelleas, woraufhin Melisande vor Kummer stirbt. Maeterlincks Figuren bewegen sich zwar in eine Zeit, die in nebliger Ferne liegt, doch ihr Seelenleben ist modern, ihre Nerven sind chronisch überreizt wie bei den Großstädtern des ausgehenden 19. Jahrhunderts.
Als feinfühliger Jüngling wird Prinz Pelleas gezeichnet, sein Halbbruder Golaud füllt zwar die Rolle des machtbewussten Thronfolgers aus, ist aber dennoch in der Lage, Zwischentöne zu hören, atmosphärische Spannungen zu erfassen. Und mit der Figur der Mélisande hat Maurice Maeterlinck einen Prototyp der »Femme fragile« geschaffen, der »zerbrechlichen Frau«: zartgliedrig, blasshäutig, ihrer Schönheit unbewusst und dadurch verführerisch, melancholisch, von faszinierender Weltfremdheit.
Pelléas et Mélisande wurde zum europäischen Theater-Hit der Jahrhundertwende, weil das Publikum sich einerseits in den Protagonisten selbst erkennen konnte, andererseits in eine faszinierende Traumsphäre hineingezogen wurde, wo sich die handelnden Figuren wie verschattete Silhouetten bewegen, wo Worte und Taten stets doppelten Sinn haben und Orte zu Metaphern werden.
Der Symbolismus, zu dessen wichtigsten Vertretern Maurice Maeterlinck zählte, entstand als Gegenbewegung zur vorherrschenden Literatur des Realismus und Naturalismus. »Jede neue Entwicklungsphase in der Kunst geht mit der Altersschwäche der unmittelbar vorhergehenden Schule einher«, schrieb der Dichter Jean Moréas 1886. Die Romantik habe sich überlebt, postulierte er, der Naturalismus wiederum sei nur ein »schlecht beratener Protest gegen die Schalheiten einiger damals angesagter Romanautoren«. Also forderte Moréas Veränderung: »Die Schablone, das heißt der chronisch gewordene Gemeinplatz, das ist in der Poesie wie in jeder anderen Sache der Tod. Zu leben bedeutet, die Luft des Himmels zu atmen und nicht den Atem unseres Nachbarn, wäre dieser Nachbar auch ein Gott!«
Literaturkritiker nannten die neue Bewegung dekadent, Moréas aber schlug den Begriff »Symbolismus« vor. Die Werke von Stephane Mallarmé und Arthur Rimbaud dienten als Inspirationsquellen, Alfred de Vigny, aber auch Shakespeare wurden zu Vorbildern erhoben. Ziel war – so Moréas – die Sensibilisierung der Leserschaft fürs Geheimnisvolle und Unsagbare, durch unverbrauchte Begriffe, ein neues Vokabular voller »bedeutungsvoller Pleonasmen, rätselhafter Ellipsen, in der Schwebe bleibender Anakoluthe und kühner Tropen«. Im Roman bewegen sich die Personen durch ihre eigenen Halluzinationen, in der Poesie gilt es, die einengenden Fesseln der klassischen Reimschemata abzuwerfen.
Und dann ist da noch die Synästhesie, die Gleichzeitigkeit verschiedener Sinneswahrnehmungen: Klang, Farbe, Geruch sollen in die Literatur einbezogen werden, um vorzudringen in bislang unbekannte Sphären der Schönheit und der Erotik, in die Grenzbereiche des Bewusstseins. So entstand »l’art pour l’art«, Elfenbeinturm-Kunst. Der Symbolismus war die Kunstbetrieb-Bubble der Jahrhundertwende.
Und das Publikum nahm diese Einladung zur Weltflucht gerne an. Denn die Wirklichkeit um 1900 machte vielen Menschen Angst. Zur groß waren die gesellschaftlichen Umwälzungen durch Industrialisierung, Säkularisierung und wissenschaftliche Innovation. In atemberaubender Geschwindigkeit entwickelten sich Städte zu Megametropolen, immer schneller wurde der Takt des Lebens durch Dampfschiffe, Eisenbahnen, Omnibusse und die ersten Autos. Im Schlagwort vom »Fin de siècle«, vom Ende des Jahrhunderts, manifestierte sich diese radikale Zeitenwende.
Aber die Künstler begehrten gegen den reinen Fortschrittsoptimismus der neureichen Bürger und der Profiteure der kapitalistischen Ausbeutung auf. Der Symbolismus war dabei nur eine der künstlerischen Reaktionen auf die Gründerzeit, die Übergänge zum Impressionismus und zum Jugendstil waren fließend, ebenso zum Surrealismus.
Im Bereich der Malerei sind Gustave Moreau, Odilon Redon und Puvis de Chavannes in Frankreich Vertreter*innen, in der Schweiz Arnold Böcklin, Clara Porges und Ferdinand Hodler, Fernand Khnopff in Belgien, Edvard Munch in Norwegen, Beda Stjernschantz und Hugo Simberg in Finnland, Max Klinger und Dora Hitz in Deutschland. Mythen und Märchen faszinierten sie, alles Düstere, Entrückte, Stilisierte, ebenso Sünde, Leidenschaft – und die Verbindung von Erotik und Tod. Zum größten Maler-Star seiner Zeit wurde der Österreicher Gustav Klimt, der es auf unübertroffene Weise verstand, seine Modelle in einen Kokon aus Kostbarkeit einzuweben.
Überhaupt wurde das Ornament im ausgehenden 19. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Gestaltungsprinzipien der Kunst: Üppigster Dekor in allen nur erdenklichen Stilrichtungen, luxuriöser Zierrat und fantasievolle Ausschmückungen verhüllen die Formen, ja überwuchern sie mitunter, sei es in der Literatur, der Malerei, der Musik oder auch der Architektur. So wurden viele repräsentative Gebäude zwar in Stahlskelettbauweise errichtet, doch diese innovative Technik wurde anschließend durch historisierende Fassaden kaschiert, also durch Ornament.
Der Pariser Eiffelturm löste bei der Weltausstellung 1889 hitzige Debatten aus, weil er ganz ohne eine solche kunstvoll-künstliche Verkleidung auskam und damit vielen Betrachtern als nackt erschien. Bei der nächsten Weltschau in der französischen Hauptstadt im Jahr 1900 verschwand das Tragwerk der Ausstellungshallen dann tatsächlich wieder hinter Gips und Stuck.
Die Komponisten der Spätromantik arbeiteten nach einem ähnlichen Prinzip: Sie entfalteten mit riesigen Orchesterbesetzungen, höchster polyphoner Komplexität und rauschhafter Klangfarbenpracht unerhörte sinnliche Reize – als tönendes Ornament.
Die traditionellen Strukturen der so genannten »funktionalen Tonalität« durchbrachen sie jedoch nicht. Sie respektierten weiterhin die Regeln des Dur-Moll-Systems, nach der sich jede noch so gewagte harmonische Entwicklung am Ende in die Grundtonart auflösen muss. Zwar rückten Gustav Mahler, Franz Schreker oder auch Claude Debussy in ihren Werken ganz nahe an die Grenzen des Systems heran, doch erst Arnold Schönberg wagte es schließlich – nachdem er mit Partituren wie Pelleas und Melisande Meisterwerke des musikalischen Symbolismus geschaffen hat –, den letzten Schritt zu gehen und die Tonalität radikal zu zerschlagen.