Autor*in: Malte Krasting
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Die Idylle verkörpert die Sehnsucht nach einem einfachen, friedlichen Leben fernab der Spannungen der Moderne. In Musik und Kunst ist sie das Sinnbild einer besseren Welt – idealisierend und zerbrechlich. Ludwig van Beethovens »Pastorale« zeigt dies zum Beispiel eindringlich.

Keine breiten Straßen zerschnitten die Landschaft, kein Fließband entfremdete die Menschen von ihrer Arbeit, es ragten auch noch keine Wolkenkratzer in den Himmel, als Ludwig van Beethoven mit der »Pastorale« seine Hommage auf das Landleben komponierte. Viele Städter wie er liebten den Aufenthalt in den Dörfern zwischen Wald und Feld, und Beethoven suchte dort jene Idylle, die er in der Urbanität Wiens so selten fand: den Einklang von Mensch und Natur. 

Gewiss deutete sich um 1800 auch schon der gewaltige Umschwung an, den die Industrialisierung mit sich bringen würde. Dampfmaschinen waren bereits im Textilgewerbe im Einsatz, dampfbetriebene Lokomotiven zogen Transportzüge im Bergbau, binnen weniger Jahrzehnte sollten Bahnlinien halb Europa miteinander verbinden. Der Gegensatz von Stadt und Land, zwischen technisierter Zivilisation und unberührter Natur spitzte sich unverkennbar zu.

Ein »Bildchen« des ländlichen Lebens 

Die Künste machten sich diesen Kontrast zunutze und erweckten die Idee einer besseren Welt im Idyll. Das Wort kommt aus dem Altgriechischen, in ihm steckt »eidos« (Bild, Gestalt, Idee) – »eidyllion« ist die Verkleinerungsform davon, »Idyll« hieß also ursprünglich Bildchen. Der antike Dichter Theokrit schuf die literarische Gattung, die diesen Namen trägt – kleine epische oder dialogische Gedichte, die das ländliche Leben in einem idealen, unschuldigen Zustand darstellen. 

200 Jahre später führte Vergil mit seinen bukolischen Dichtungen das Genre fort, die Renaissancepoeten griffen es wieder auf, und auch die bildende Kunst fand ein dankbares Publikum für ihre idealisierten Darstellungen von Hirtenszenen in einer idealisierten Natur. 

Die Erinnerung an eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat

Ein Goldenes Zeitalter wird in diesen Werken beschworen – die Idylle gilt als Inbegriff eines friedlichen und einfachen Lebens auf dem Lande. Das Idyll ist die Erinnerung an eine Vergangenheit, die es nie gegeben hat, und ruft geradezu nach Musik, jener Kunst, die im Verklingen schon wieder vergeht. Pastorale Szenen (von lateinisch »pastor« = Hirte) gibt es daher seit Anbeginn von Dichtung und Musik. Auch das frühe Musiktheater knüpfte daran an. 

Pures Glück ist allerdings kein Stoff für Tragik, sondern nur ihr Ausgangspunkt. So erfüllt die Idylle in Monteverdis Oper Orfeo ihre dramatische Funktion als glücklicher Zustand, der durch ein plötzliches Ereignis zerstört wird, und der Mensch kämpft von nun an darum, das rückgängig zu machen. 

Fragiles Gegenbild zum schrecklichen Abgrund

Im Übergang von Klassik zu Romantik, als am Ende des Zeitalters der Aufklärung die Grenzen des Rationalen immer offensichtlicher wurden, entwickelte sich das Idyll zum Gegenbild einer als erschreckend wahrgenommenen Gegenwart. Die Menschen erkannten, dass sich mit den Errungenschaften der Vernunft nicht alles begründen lässt, was in der menschlichen Seele vor sich geht, und die Musik wandte sich vom klingenden Abbild des Gesehenen und Gehörten zur Wiedergabe dessen, was jenes im Menschen auslöst. Schon Beethoven lauschte inwendig auf die Gefühlsregungen des beobachtenden Menschen. Die folgende Generation grub noch tiefer. In der Romantik wird das Unheimliche als Bestandteil des menschlichen Wesens entdeckt, die Idylle an sich aber wurde um so wichtiger als fragiles Gegenbild zum schrecklichen Abgrund. 

Die Symphonie fantastique von Hector Berlioz, nur gut zwei Jahrzehnte nach der »Pastorale« entstanden, ist in diesem Sinne ihr Nachfolger. Berlioz brachte das Theater aufs Konzertpodium: »Bei Beethoven schildert der erste Satz, wie die Überschrift sagt, das ›Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande‹, bei Berlioz eine ›vague des passions‹ – gemeinsam also ist die Darstellung allgemeiner Gefühlszustände des ›poetischen Subjekts‹ der Symphonie. Im Kontrast dazu nun die jeweils folgenden vier Sätze: Sie repräsentieren Szenerien einer Außenwelt, ähnlich Bühnentableaux«, so der Musikwissenschaftler Wolfgang Dömling. 

Berlioz ließ seine beiden Hirten ihren Kuhreigen, eine Gattung von Liedern, mit denen Kühe zum Melken angelockt wurden, auf der Schalmei von zwei Berggipfeln in den Alpen blasen: Sie standen einerseits dem Himmel näher und waren andererseits buchstäblich absturzgefährdet. »Die Szenerien der Symphonie fantastique spielen – und hier wird die gewaltige Distanz zu den heiteren Genrebildern der Beethoven’schen »Pastorale« vollends klar – in einem Reich von Traum und Imagination« (Dömling), das nach dem Bergidyll bald in Opiumrausch und Walpurgisnachtalbtraum endet. 

Zu schön, um wahr zu sein

Einen anderen Sinn fanden britische Komponisten in der Naturverklärung. Um eine eigene musikalische Identität abseits des Kontinents aufzubauen, unbelastet von den kolonialen Problemen und dem Moloch der Metropolen, suchten sie ihr Heil in der Countryside: Pastorale Träume heißt eine lesenswerte Studie des Musikwissenschaftlers Erik Dremel über die Idealisierung von Natur in der englischen Musik. Die Musik klinge dann allerdings oft »wie eine Kuh, die übers Gatter schaut«, kommentierte boshaft der Komponist Peter Warlock zu Beginn des 20. Jahrhunderts. 

Im symphonischen Kosmos von Gustav Mahler hingegen sind Idyllen wie etwas Außerweltliches, Imaginäres – zu schön, um wahr zu sein. Im ersten Satz von Mahlers Siebter Symphonie scheint mitten in der Durchführung eine Passage auf wie eine Vision aus anderen Sphären. Diese »Entrücktheitsinsel« hat der Komponist einen »Ausblick auf eine bessre Welt« genannt. 

Vorbote des Unheils 

In der Oper des 19. und frühen 20. Jahrhunderts finden sich ähnliche idyllische Inseln, in denen sich allerdings ein verdichteter Spiegel der Handlung verbirgt. Richard Wagners Tannhäuser und Giacomo Puccinis Tosca enthalten die wohl berühmtesten pastoralen Szenen dieser Art. In beiden singen junge Hirten mit androgynen Stimmen (Sopran oder Knabensopran) in großer Entfernung einen altertümlichen Text. Doch diese scheinbar den äußeren Geschehnissen entrückten Intermezzi geben im Kern die Situation wieder, in der sich die einsam zuhörende Person befindet: zum einen der Minnesänger Tannhäuser in seinem Konflikt zwischen dem Wunsch nach sinnlicher Lust und der Verehrung marianischer Frömmigkeit, zum anderen der Maler Mario Cavaradossi in der Erwartung, mit der aufgehenden Sonne nicht nur seine Ideale, sondern auch seine Liebe zu Tosca und sein Leben zu verlieren. Auch hier ist die Idylle also nicht nur eine Oase von Unschuld, ein Refugium vom Getriebe der Geschäftigkeit, sondern Vorbote des Unheils, das, am Beispiel des Einzelnen dargestellt, im Grunde der ganzen Menschheit droht.