Autor*in: Malte Krasting
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Ein Gemälde Schönbergs, auf einem Stuhl sitzend.
Porträt Arnold Schönberg, um 1907 | Bild: Richard Gerstl (Künstler), Birgit und Peter Kainz (Foto) - Wien Museum Inv.-Nr. 78103 - CC BY 4.0, Wien Museum

Das Oratorium Die Jakobsleiter nimmt im Schaffen Arnold Schönbergs eine besondere Stellung ein. Es gehört zu seinen umfangreichsten Werken, und es ist in Text und Musik ein Bekenntnis. Über die Hälfte seines Lebens beschäftigte sich Schönberg mit diesem Projekt, und doch hat er es nicht vollenden können. Nur etwas mehr als die Hälfte wurde komponiert; erst nach Schönbergs Tod hat sein ehemaliger Schüler Winfried Zillig den Partitur-Entwurf für Aufführungen ausgearbeitet. Erstaunlicherweise vermittelt es dennoch den Eindruck eines in sich abgeschlossenen Werkes. Entstanden ist das Stück aus der für Schönberg zentralen Frage nach der geistigen Vervollkommnung des Menschen und der Möglichkeit einer Transzendenz des irdischen Daseins.

Der Titel bezieht sich auf eine Episode im 1. Buch Mose. Auf der Flucht vor der Rache seines Bruders Esau, den er um dessen Erstgeburtsrecht betrogen hatte, übernachtet Jakob in Bethel. »Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf der Erde stand und bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nieder. Und siehe, der Herr stand oben und sprach: Ich bin der Herr, der Gott deines Vaters Abraham und der Gott Isaaks.« Dieser Traum ist in zahllosen bildlichen Darstellungen interpretiert worden, als Symbol der Aussicht auf einen spirituellen Aufstieg.

In den Jahren vor, während und nach dem Ersten Weltkrieg empfand Schönberg eine »Umstürzung all dessen, woran man geglaubt hat«, einzig die Religion habe ihn vor einem geistigen Zusammenbruch gerettet. In dieser Phase entstand der Plan zu einem Oratorium, das von Jakobs Traum inspiriert ist.

Schönberg zufolge sollte hier geschildert werden, »wie sich der Mensch von heute, der durch den Materialismus, Sozialismus, Anarchie, durchgegangen ist, der Atheist war, aber sich doch ein Restchen alten Glaubens bewahrt hat (in Form von Aberglauben), wie dieser moderne Mensch mit Gott streitet […] und schließlich dazu gelangt, Gott zu finden und religiös zu werden. Beten zu lernen!« Letztlich schrieb Schönberg den Text zur Jakobsleiter selbst. Zwischen 1917 und 1922 komponierte er den ersten von geplanten zwei Teilen und das Zwischenspiel; trotz mehrerer neuer Ansätze fügte er später nichts Substantielles mehr hinzu.

Der »Mensch von heute« – also keine biblischen oder historischen Gestalten – wird in verschiedenen Ausprägungen in der Jakobsleiter vor Prüfungen gestellt. Beurteilt werden diese durch den Erzengel Gabriel, der die Devise ausgibt: »man hat weiterzugehen, ohne zu fragen, was vor oder hinter einem liegt«.

Der in mehrere Gruppen aufgeteilte Chor reagiert mit dringlichem, einander ins Wort fallenden Duktus – die Unzufriedenen, die Zweifelnden, die Jubelnden, die Gleichgültigen und die mit fast genüsslicher Schärfe geschilderten Sanftmütigen. Die Figuren selbst sind keine Individuen, sondern Repräsentanten bestimmter Typen: ein »Berufener«, ein »Aufrührerischer«, ein »Ringender«, später noch ein »Mönch«, am Ende »Der Sterbende«. Alle sind sie in unterschiedlichem Maße fehlbar, ihnen allen zeigt Gabriel die Grenzen ihres bisherigen Strebens auf.

Dazwischen erscheint ein »Auserwählter«, der auf dem Weg schon weiter vorangeschritten ist – er soll den anderen Vorbild sein, sie leiten auf dem Pfad zum Himmel. In ihm sah Schönberg den Inbegriff des Künstlers, womöglich sich selbst. Mit den Auftritten der verschiedenen Figuren bilden sich kapitelartige Abschnitte mit jeweils eigener Charakteristik. Ein »Großes symphonische Zwischenspiel« wird im Fragment zum Finale; im zweiten Teil sollte der Weg zum gemeinsamen Gebet beschritten werden. Sinnfälliger hätte diese Wendung kaum vertont werden können als mit den Vokalisen der »Seele« am Schluss des Zwischenspiels, die sich in stratosphärischer Höhe singend verlieren: ins Himmlische hinauf.