Die Dirigentin und Cembalistin Emmanuelle Haïm gehört zu den bedeutendsten Protagonistinnen der Alten Musik. Porträt einer Barock-Ikone, die immer wieder Gast bei der Berliner Philharmonikern ist.
Dirigentin war der erste Berufswunsch von Emmanuelle Haïm. Dass diese Tätigkeit vorwiegend von Männern ausgeübt wurde, war ihr dabei weder wichtig noch interessant – es fiel ihr, wie sie sagt, erst später auf, dass es zwischen ihr und den meisten Kollegen einen kleinen Unterschied gab. Verwirklicht hat sie ihren Berufswunsch auf Umwegen und dennoch mit großer innerer Konsequenz, die von ihrer Spezialisierung auf Barockmusik nicht zu trennen ist.
Heute ist sie eine der wichtigsten Vertreterinnen der historisch informierten Aufführungspraxis weltweit, sie hat nicht nur mit ihrem Ensemble Le Concert d’Astrée großen Erfolg, sondern ihre Expertise und musikalische Energie wird auch von großen, modernen Symphonieorchestern gern und oft in Anspruch genommen. Wenn sie nun bei den Berliner Philharmonikern Händels frühes Oratorium Il trionfo del Tempo e del Disinganno leiten wird, ist das bereits ihr sechster Auftritt mit und vor dem Orchester – nicht gezählt solche, bei denen sie inmitten des Orchesters an Cembalo oder Orgel saß und Continuo, also die Basslinine, in einem Stück, gespielt hat.
Emmanuelle Haïm wurde 1962 in Paris geboren, sie erhielt ersten Klavierunterricht von ihrer Tante, die sie bald an ihre Freundin Yvonne Lefébure weiterreichte, die damals schon 70-jährige Legende der französischen Klavierpädagogik, deren Schüler einer deutlich älteren Generation angehörten.
Schon die Tante hatte Emmanuelle Haïm ein Faible für Barockmusik vermittelt, sie spielte besonders gern die Musik französischer Clavecinisten wie François Couperin und Jean Philippe Rameau, aber auch Johann Sebastian Bach, der es ihrer hochbegabten Nichte besonders angetan hatte: »Bei ihm fand ich alles – Pracht, Rhythmus, Harmonie, Form.
Seine Musik hat alle meine Sinne erweckt.« Nach der Zeit am Pariser Conservatoire bei Madame Lefébure studierte Emmanuelle Haïm so ungefähr alles, was Tasten hat: Klavier, Orgel, vor allem aber Cembalo – bei Kenneth Gilbert und Christophe Rousset – und Continuo-Spiel. Trotz vieler erster Preise bei ihren Prüfungen entschied sich Haïm nicht für eine Solisten-Karriere. Der nur ein Jahr ältere Christophe Rousset – als Cembalo-Solist war er ihr sehr früh ein sehr erfolgreicher Lehrer – überzeugte sie davon, wie er selbst bei dem größten Wiederentdecker der französischen Barockmusik in die Lehre zu gehen: bei William Christie.
Der geborene New Yorker war 1971, mit noch nicht 27 Jahren, nach Paris übergesiedelt und gründete dort 1979 das Ensemble Les Arts Florissants. Es ist kaum übertrieben zu sagen, dass die historisch informierte Aufführungspraxis – zu der Zeit in Deutschland, Österreich und den Beneluxstaaten bereits etabliert – in Frankreich mit Christie und Les Arts Florissants ihren Anfang nahm. Zwar hat schon zwei Jahre früher der Flame Philippe Herreweghe die Chapelle Royale in Paris gegründet.
Aber Christie vermochte nicht nur das Publikum von der Lebendigkeit und Besonderheit der Werke Rameaus, Charpentiers, Couperins und vieler anderer zu überzeugen. Les Arts Florissants wurde dank Christies erzieherischer Fähigkeiten auch zum Ursprung unzähliger Karrieren – vor allem von Sängern, aber eben auch von Musikern, die später ihre eigenen Ensembles ins Leben riefen: Marc Minkowski war unter Christie Fagottist und wurde dann Grün-der und Leiter von Les Musiciens du Louvre; Christophe Rousset war Continuo-Spieler und gründete später sein Ensemble Les Talens Lyriques; Hervé Niquet, ausgebildet als Continuist und Chorleiter, sang bei Christie als Ensemble-Tenor und gründete Le Concert Spirituel; und schließlich war auch Emmanuelle Haïm der Schule von Christie entwachsen und gründete 2002 Le Concert d’Astrée.
Es ist kein Zufall, dass vor allem die Continuo-Spieler zu Ensemblegründern werden. Heute steht in fast jeder Aufführung von Barockmusik ein Dirigent vor dem Orchester, aber im Barock wurden die Ensembles vom Cembalo oder der Orgel aus geleitet. Denn in der Continuo-Stimme ist das Fundament des Werks niedergelegt, zusätzlich zur Bass-Stimme verzeichnet sie die Harmonien der Musik, und viele Continuisten spielen aus der Partitur, um über den musikalischen Kontext umfassend unterrichtet zu sein. Der Schritt vom Continuo zum Dirigieren ist also wirklich nicht groß. Viele Leiter heutiger aufführungspraktisch orientierter Ensembles spielen im Continuo mit, weil tatsächlich vom Continuo aus diese Musik besser zu führen ist als von der Konzertmeister-Position in den Ersten Geigen.
Emmanuelle Haïm machte sich bei Les Arts Florissants nicht nur als Continuo-Spielerin, sondern auch beim Einstudieren der Partien mit den Sängerinnen und Sängern einen Namen – im Grunde arbeitete sie also bereits wie ein Kapellmeister am Theater. Die entscheidende Anregung jedoch, den ursprünglichen Traum vom Dirigieren wieder aufleben zu lassen, erhielt sie durch Sir Simon Rattle.
1999 dirigierte er bei den Salzburger Festspielen Rameaus Ballettoper Les Boréades mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment. Wegen der Besetzung des Cembalos hatte er sich Hilfe suchend an William Christie gewandt, der ihm Emmanuelle Haïm empfahl. Für sie verkörperte sich in Rattle ihr eigenes Ideal des Dirigierens: Nicht durch Autorität, eher mit Charme, auf jeden Fall aber und vor allem durch die Vermittlung der eigenen Freude an der Musik.
Man brauchte Emmanuelle Haïm nur zuzuschauen, wie sie Cembalo spielt, etwa 2014 bei Rattles Johannes-Passion in der Philharmonie Berlin: Ihre körperliche Geschmeidigkeit ahmt nach, wie sie sich musikalisch einbringt – mit Engagement, Individualität und dennoch immer im Dienst der Sache.
»Es ist nie genug, es kann nicht zu viel sein«, hat Haïm ihr Verhältnis zum Ausdruck einmal beschrieben – und das wohl hat ihr das ziemlich peinliche Journalisten-Etikett »Ms Dynamite« eingebracht. Es verkennt, dass es bei ihrem Musizieren keineswegs nur um emotionale Brandstiftung geht, sondern zugleich um formale Ausgewogenheit und einen Swing, den auf ihre je unterschiedliche Art sowohl Christie als auch Rattle in alles hineinbringen, was sie anfassen.
Französische Barockmusik ist ein Kosmos für sich: Rhythmisch differenziert durch ihre Orientierung am Tanz, rational in ihrer harmonischen Ordnung und ein bisschen abstrakt im Notenbild, das von zahlreichen Verzierungssymbolen übersät ist, die Leben in die schlichten melodischen Gebilde bringen – wenn man mit ihnen umgehen kann. Mit diesem Stil ist Emmanuelle Haïm musikalisch geprägt worden, an ihm hat sie ihr Gefühl für melodisch beseelten Vortrag über einem rhythmisch tragenden Gerüst entwickelt, ihre mitreißende Begabung für schlüssige und ausdrucksvolle Phrasierung geschult.
Man höre sich ihre Aufnahme von Claudio Monteverdis L’Orfeo an, in dem sie auch in der sonst als frei rhythmische Deklamation vorgetragenen Monodie rhythmisch prägnante Gestalten entdeckt, die sie für den Hörer ungewöhnlich übersichtlich phrasiert – es gibt Aufnahmen, die expressiv scheinbar stärker ins Extrem gehen, sich dafür aber auch strukturell im Ungefähren verlaufen. Unter Emmanuelle Haïms Leitung wird man die Werke besser kennenlernen, und damit auch ihren Ausdruck, der von der Form nicht zu trennen ist.
Sänger, die sich hemmungslos ausleben wollen, finden in ihr keine Partnerin – aber jene, die sich auf die Arbeit mit ihr einlassen, wissen, dass Emmanuelle Haïm ihnen einen Rahmen schafft, in dem sie alle ihre Qualitäten dennoch aufs Schönste zur Geltung bringen können. Das Verhältnis zu ihren Sängerinnen und Sängern ist eng, treu und freundschaftlich. Die Liste ihrer Solistinnen und Solisten umfasst die besten Namen der Szene: Natalie Dessay, Sabine Devieilhe, Lea Desandre, Sonia Prina, Philippe Jaroussky, Tim Mead, sogar musikalisch ganz anders geprägte Sänger wie Joyce DiDonato oder Rolando Villazón brachte sie zur Barockmusik.
Ihre größten Erfolge feierten Haïm und Le Concert d’Astrée mit der Musik Georg Friedrich Händels: Mit einer Aufführung der Oper Rodelinda wurden sie und ihr Ensemble auf einen Schlag berühmt, und in ihrer Diskografie ist Händel am häufigsten vertreten, vom gewaltigen Giulio Cesare bis zum anmutigen Aci, Galatea e Polifemo, vom frühen Oratorium La Resurrezione bis zum Schlager Messiah, und mit den Kammerduetten und zuletzt einigen italienischen Kantaten ist auch die filigrane Seite Händels vertreten. Auch bei den Berliner Philharmonikern war fast immer mindestens ein Werk Händels dabei, wenn sie als Dirigentin vor das Orchester trat: Von ihrem philharmonischen Debüt mit der Cäcilienode über die großen Suiten der Wasser- und Feuerwerksmusik bis zum großen italienischen Osteroratorium La Resurrezione.
Nun dirigiert sie bei den Philharmonikern jetzt Händels erstes Oratorium, entstanden wohl 1707 in Rom. Il trionfo del Tempo e del Disinganno erzählt eine allegorische Geschichte, den Kampf des Vergnügens (Piacere) mit Zeit und Erkenntnis (Tempo e Disinganno) um die Schönheit (Bellezza). Das klingt zunächst eher öde und moralistisch, läuft es doch darauf hinaus, dass sich die Schönheit vom vergänglichen Vergnügen abkehrt und der Erkenntnis zuwendet. Aber nicht zuletzt, weil Händel mit seiner überaus schönen und vergnüglichen Musik dieser Moral ein gehöriges Maß an Skepsis entgegensetzt, wird das Stück zu einer fesselnden und so melodischen wie klangsinnlichen Auseinandersetzung mit einem gewaltigen Spektrum an Affekten.
Angeregt durch das Libretto seines Mäzens Benedetto Pamphilj, der von dem jungen und attraktiven deutschen Komponisten anscheinend nicht nur musikalisch fasziniert war, schrieb sich Händel selbst in das Stück ein: Es gibt eine Arie, die vom Eintreten eines »leggiadro giovinetto« (»anmutigen Jünglings«) handelt, der mit schmeichelndem Klang die Sinne verwirrt – und diesen »suono lusinghiero« erzeugte Händel bei der Uraufführung selbst auf »seinem« Instrument, der Orgel, der er einen obligaten Orgelpart schrieb.
Als Emmanuelle Haïm das Stück vor 15 Jahren aufnahm, war sie hochschwanger und hatte sich die rechte Schulter gebrochen, sodass sie die beiden Stimmen dieses Orgelparts nacheinander mit der linken Hand einspielen musste. Dennoch ist diese Produktion bis heute eine Referenz wegen ihrer Vitalität, Präzision und Farbigkeit – und der überaus genauen Arbeit mit den drei Sängerinnen und dem einen Sänger. Freuen wir uns also auf die Magie einer Live-Aufführung, diesmal mit einer unversehrten Emmanuelle Haïm sowie zwei Sängerinnen und zwei Sängern!
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