Autor*in: Anna Vogt
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Schwarz-weiß-Fotografie von Ferruccio Busoni, er hat gewellte Haare und einen Kinn- und Schnurrbart. Er trägt einen Anzug.
Ferruccio Busoni, 1904 in New York | Bild: Public Domain Mark 1.0, Staatsbibliothek zu Berlin - Preußischer Kulturbesitz, Germany

Der Pianist, Pädagoge und Komponist Ferruccio Busoni ist eine in der Musikgeschichte einzigartige Erscheinung. Sein Werk bietet eine faszinierende Verbindung aus Originalität und Tiefe, Intellekt und Herz, italienischer Romantik und deutscher Musiktradition – und fristet dennoch im heutigen Konzertleben ein Schattendasein. Die Gründe dafür sind vielfältig.

Der Italiener Ferruccio Busoni war ein Wahlberliner: 1894 ging er 28-jährig mit seiner Frau Gerda in die deutsche Hauptstadt und wohnte unter anderem in der Kantstraße und der Augsburger Straße, bevor das Paar ab 1910 eine herrschaftliche Bleibe am Viktoria-Luise-Platz 11 in Berlin-Schöneberg bezog. Die Wohnung im fünften Stock hatte nicht nur eine Bibliothek mit 5000 Büchern, sondern auch einen eigens installierten Fahrstuhl, der in eine Kneipe im Parterre führte. Eine unfreiwillige Zäsur dieser Berliner Zeit brachte der Erste Weltkrieg mit sich: Als »feindlicher Ausländer« musste Busoni aufgrund seiner italienischen Abstammung zeitweilig ins neutrale Zürich fliehen.

Busonis Leben bewegte sich von Anfang an zwischen zwei Welten und Kulturen: Italien und Deutschland. Als Sohn einer deutschen Pianistin und eines italienischen Klarinettisten wurde Ferruccio Busoni 1866 in Empoli, einer Kleinstadt in der italienischen Toskana, geboren. Durch sein Elternhaus früh in seinen musikalischen Talenten gefördert, debütierte er mit sieben Jahren als Pianist und Komponist und machte auf sich aufmerksam. 

So schrieb der österreichische Musikkritiker Eduard Hanslick begeistert: »Seit langer Zeit hat uns kein Wunderkind so sympathisch angesprochen wie der kleine Ferruccio Busoni, gerade weil er so wenig von einem Wunderkind an sich hat, hingegen viel vom guten Musiker, sowohl als Pianist wie auch als angehender Compositeur.«

Busoni war ein Wunderkind

Im Alter von neun bis elf Jahren studierte Busoni am Wiener Konservatorium, mit 15 wurde er – wie gut ein Jahrhundert vor ihm der 14-jährige Wolfgang Amadeus Mozart – in die berühmte Accademia Filarmonica in Bologna aufgenommen. Mit 20 Jahren wurde Busoni von Carl Reinecke in Leipzig unterrichtet, wo er Frederick Delius, Gustav Mahler und Edward Grieg kennenlernte. Johannes Brahms, der selbst zu einem wichtigen künstlerischen Vorbild für den jungen Busoni wurde, förderte ihn in der Entwicklung seines Talents. Nach diesen intensiven Lehrjahren war Busoni nicht nur bestens ausgebildet, sondern auch europaweit in der Musikszene vernetzt.

Die weite Welt mit ihren Möglichkeiten lockte den neugierigen jungen Künstler, der alles wie ein Schwamm in sich aufzusaugen schien. Nach dem Studium lehrte Busoni an verschiedenen Konservatorien Klavier: Vom finnischen Helsinki, wo er zu einem Freund und Förderer von Jean Sibelius wurde und seine spätere Frau Gerda kennenlernte, zog er weiter nach Moskau und lebte schließlich von 1891 bis 1894 in Boston. In Amerika setzte er sich intensiv und mit Begeisterung mit der Musik der Native Americans auseinander, was sich beispielsweise in seiner Indianischen Phantasie für Klavier und Orchester von 1913/14 widerspiegelt.

Nachdem er 1894 Berlin als seine Heimat gewählt hatte, veranstaltete Busoni dort zwischen 1902 und 1909 eine Konzertreihe, die sich neuen und selten aufgeführten Werken widmete. Auf dem Programm standen Kompositionen unter anderem von Edward Elgar, Jean Sibelius, Claude Debussy, Carl Nielsen, Delius und Pfitzner – zur damaligen Zeit absolute Novitäten. Auch seine Kompositionsmeisterklasse, die er in Berlin an der Akademie der Künste unterrichtete, wurde zu einem kreativen »Thinktank« mit Schülern wie Kurt Weill und Ernst Krenek. 

Œuvre von fast 500 Werken

Doch Busonis Flirt mit der Moderne blieb in vielerlei Hinsicht eher theoretischer Natur. Zwar wünschte er sich: »Ich möchte noch gern einen Zipfel der neuen Tonkunst erwischen und womöglich selbst einen Saum daran nähen«. Und in seinem Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst von 1907 suchte er nach einer neuen Balance von musikalischen Empfindungen und Sprache, befasste sich in anderen Schriften unter anderem mit der Weiterentwicklung und Differenzierung des Halbtonsystems etwa in Dritteltöne, was Hans Pfitzner Anlass gab, spöttisch vor »Futuristengefahr« zu warnen. 

Doch diese Überlegungen fanden wenig Eingang in Busonis eigene kompositorische Praxis. In seinem Wirken war er kein radikaler Erneuerer, sondern ein Grenzgänger, der mit dem musikalischen Erbe insbesondere der Romantik neugierig spielte und es lustvoll in den Exzess zu treiben vermochte.

Busonis schaffensreiches Leben führte zu einem beachtlichen kompositorischen Œuvre von fast 500 Werken, darunter vier Opern. Er betätigte sich darüber hinaus auch als Schriftsteller, Bearbeiter von Werken unter anderem von Johann Sebastian Bach und Franz Liszt, als Wissenschaftler, Pädagoge und Dirigent. Die vielen Leben, die er in einem zu leben versuchte, charakterisieren ihn – so beschrieb es sein Biograf Hans Heinz Stuckenschmidt – als eine jener Künstlerpersönlichkeiten, »deren ganzes Wesen von der Spannung innerer Vielstrebigkeit vibriert, von dem unablässigen Wettstreit, den vielerlei Wesenszüge, Begabungen und geistige Triebe in ihnen miteinander ausfechten«. Dieser Wettstreit seiner kreativen Persönlichkeitsanteile mag dazu beigetragen haben, dass Busonis Kompositionen, bis auf Teile seines Klavierwerks, bis in die heutige Zeit eher verschattet von seiner erfolgreichen Karriere als Tastenvirtuose sind.

Sakari Oramo dirigiert Ferrucio Busonis Klavierkonzert mit Männerchor

Mit Euphorie dem Leben zugewandt

Vielleicht liegt das Schattendasein von Busonis kompositorischem Schaffen aber auch in der »Ungreifbarkeit« vieler seiner Werke begründet. Busonis weiter Bildungshorizont und seine vielfältigen Ideen, die sich in seinen Kompositionen oft widerspiegeln, beflügelten die Würdigung seines Œuvres nicht unbedingt. Denn in der Fülle der Möglichkeiten liegt auch die Gefahr der Überkomplexität, der Überforderung. Was seine Werke prägt, ist eine anspruchsvolle Mischung aus Originalität und Tiefgang, aus Kopf und Herz. Auch die geistige Doppelstaatsbürgerschaft Busonis hallt in vielen seiner Werke wider: Der romantische, sangliche Geist der Musik eines Giuseppe Verdi wirkt in Busonis Kompositionen ebenso hinein wie das barocke und klassische Erbe der deutschsprachigen Kompositionsschulen etwa von Bach oder Mozart. Busonis Musik schockiert nicht, sie ist nicht radikal modern oder stößt das Publikum vor den Kopf. Stattdessen suchte der Komponist die Balance zwischen Spannung und Entspannung, zwischen Irritation und Schönheit, zwischen innerem Aufruhr und formaler Ordnung.

Werke wie das Klavierkonzert mit Männerchor in ihrer kompositorischen Überfülle und Kompromisslosigkeit machen deutlich: Busoni war mit Kopf und Herz und absolut bedingungslos der Musik mit ihrer Wirkungsmacht verfallen. Verfallen war er aber auch dem Wein und den Zigarren, was in Kombination mit einer Nierenerkrankung zu seinem frühen Tod im Alter von 58 Jahren beitrug. Seine letzte Ruhestätte fand Busoni auf dem Friedhof in Berlin-Friedenau, in guter Gesellschaft: Hier ruhen heute auch Paul Zech, Oskar Pastior und Marlene Dietrich. Busonis Grab ziert und bewacht eine Statue des Künstlers Georg Kolbe, eine Figur mit weit ausgestreckten Armen – mit Euphorie dem Leben zugewandt.