Autor*in: Marvin J. Deitz
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Gemälde des Liebespaares in einem mittelalterlichen Zimmer: Eine Frau in grünem Kleid und ein Mann in rotem Gewand küssen sich vor einem Fenster mit verzierten Bleiglasscheiben, umgeben von Rosen und Büchern
»Paolo and Francesca da Rimini«, 1867 | Bild: Dante Gabriel Rosetti (Künstler), National Gallery of Victoria, Melbourne

Von der Madonna und einigen anderen biblischen Gestalten abgesehen dürfte wohl kaum eine Frauenfigur in der Kunst so häufig anzutreffen sein wie Francesca da Rimini. Allein 36 Opern und Theaterstücke, mindestens 30 berühmte Gemälde und zahllose weniger bekannte Werke wurden von ihrer Geschichte inspiriert. Eine der mitreißendsten musikalischen Versionen stammt von Sergej Rachmaninow – Mitte Januar ist sie mit den Berliner Philharmonikern und Kirill Petrenko zu erleben.

Norditalien, irgendwann zwischen dem 28. Februar 1283 und dem Jahr 1286: In einer herrschaftlichen Burg in Rimini an der Adriaküste werden zwei Tote gefunden. Ein Mann und eine Frau, eng umschlungen. Beide Leichen weisen eine Stichverletzung auf, vermutlich von ein und demselben Schwerthieb. Neben ihnen liegt eine aufgeschlagene Ausgabe der französischen Sage von Lancelot du Lac. Die Toten werden schnell identifiziert: Francesca da Rimini und Paolo da Verucchio, genannt »il bello«, »der Schöne«. Wie konnte es zu dieser Tragödie kommen? 

Wissen können wir es nicht. Die historischen Fakten sind rar. Unsere Hauptquelle ist Dante Alighieri, der die in die Hölle verbannte Francesca in seiner Divina commedia, der Göttlichen Komödie, nach ihrem Schicksal befragt. Später wurde die Legende von Dante-Anhängern fortgesponnen und kommentiert. Dennoch legen Dantes genaue Details der politischen Umstände und ein Testament nahe, dass die historische Francesca da Rimini existierte und Zeitgenossin Dantes war. 

Kirill Petrenko

Kirill Petrenko mit Rachmaninows »Francesca da Rimini«

Die Vorgeschichte

Im späten 13. Jahrhundert haben die Familien da Polenta aus Ravenna und da Verucchio aus dem 50 Kilometer entfernten Rimini das Sagen in der Region Romagna. Angeblich plant Guido da Polenta um 1275, seine Tochter Francesca an Giovanni da Verucchio zu verheiraten: eine politische Heirat, um den Frieden zischen den rivalisierenden Familien zu sichern.

Unklar. Weil nun Giovanni sowohl optisch – er hinkt (ital. »sciancato«) und wird deshalb auch »Gianciotto« genannt – als auch charakterlich etwas unvorteilhaft geraten sein soll, fürchtet Guido, seine Tochter könnte sich querstellen. Da kommt ihm eine Idee: Giovanni hat doch diesen hübschen Bruder, Paolo, »il bello«. Vielleicht könnte er ja nach Ravenna kommen und sich als Giovanni ausgeben. Ist die Ehe einmal geschlossen, wird sich alles andere schon irgendwie fügen. 

Francesca steht also Paolo gegenüber, es funkt und sie sagt freudig: Ja, ich will! Als sie den Schwindel nach der Hochzeit bemerkt, ist es längst zu spät. Giovanni kann sie nicht lieben; stattdessen trifft sie sich weiter mit Paolo – heimlich natürlich. Eines Tages geschieht es: Als die beiden in der Artus-Sage lesen, wie Lanzelot seine Geliebte Guinevere küsst – so beschreibt es Dante poetisch –, treffen sich ihre Blicke, nähern sich ihre Körper, treffen sich ihre Lippen. Doch der erste Kuss wird jäh unterbrochen. Giovanni späht durch die Tür, sieht seinen Bruder und seine Ehefrau und sticht sie voller Zorn nieder. Er gesteht die Tat, nicht aber die Schuld – als betrogener Ehemann hat er in der damaligen Zeit auch nichts zu befürchten.

Inspiration für Malerei, Musik und Literatur

Das brutale Schicksal der Francesca da Rimini von Täuschung, unmöglicher Liebe und gewaltsamen Tod bewegt offenbar etwas in den Menschen. Denn von der Liebesgeschichte und der Göttlichen Komödie lassen sich die unterschiedlichsten Dichter*innen, Maler*innen und Komponisten*innen inspirieren: Paul Heyse schrieb eine Tragödie in fünf Akten, Auguste Rodin goss Den Kuss in eine Skulptur, Tschaikowski vertonte die Geschichte in seiner symphonischen Dichtung. Sein Bruder Modest verfasste ein Libretto auf Grundlage von Dantes Version – Sergej Rachmaninow komponierte schließlich daraus eine Oper in zwei Szenen mit Prolog und Epilog.

Rachmaninows Version: extreme Gefühle vertont

In der Göttlichen Komödie durchschreitet Dante die drei Stufen des Jenseits, wie die christliche Welt es sich im 13. Jahrhundert vorstellt: Inferno (Hölle), Purgatorio (Fegefeuer, hier als Berg der Läuterung) und Paradiso (Paradies). Durch ein riesiges Eingangstor gelangen er und sein Begleiter Vergil zunächst hinab ins Höllenreich. Dort folgen auf die Vorhölle neun Höllenkreise, die sich trichterförmig nach unten schlängeln. In ersten Kreis harren die »unschuldig Schuldigen«, im neunten und letzten Kreis die »Sünder des Verrats«. Je tiefer also, desto schwerer die Vergehen und desto schlimmer die Strafen. 

Francesca und Paolo warten im zweiten Höllenkreis. Als Dante seinen Begleiter fragt, für wen dieser Bereich vorgesehen ist, lautet seine Antwort: Für die, »die ihren Verstand der Liebe unterwarfen«. Darunter sind auch Helena, Paris und Achilles sowie Dido und Kleopatra. Die Strafe: Ein ewiger Höllensturm. An dieser Stelle setzt Rachmaninows Prolog ein.

Das »Klagen, Schrein und Jammern« der Höllenbewohner hören wir zu Beginn in den Klarinetten und Hörnern, die mit der ständig wiederkehrenden kleinen Sekunde das typische Klageintervall seufzen. Chromatik (Fortschreiten einer Melodie in Halbtonschritten) und düstere Klangfarben überwiegen. Die Musik tritt auf der Stelle, es gibt kein Vor und kein Zurück: Welcome to hell! Rachmaninow wirft die Zuhörenden akustisch gleich mit in die Hölle und macht die Geschichte so spürbar.

Francesca wird – wie später auch ihr Ehemann Giovanni, in der Oper nicht »Gianciotto«, sondern »Lanciotto« genannt – mit einem Leitmotiv nach Wagner-Art eingeführt. Zusammen mit Paolo klagt sie: »Kein Schmerz ist größer, als im Elend sich an die guten Zeiten zu erinnern.« Doch die Szenerie, die Rachmaninow hier gestaltet, ist nicht nur finster und angsteinflößend, sie ist vor allem voller Mitleid. »Die Martern derer, die dort unten leiden, wecken Mitleid, nicht Furcht«, gesteht Dante. 

Fragen nach Schuld und Schicksal

Im ersten Bild hadert der »betrogene« Ehemann Giovanni mit seinem Schicksal, vor allem aber mit seiner Eifersucht. Er ahnt, dass Francesca ihn nicht lieben wird. Die Schuld an seiner Misere schiebt er seinem Schwiegervater zu, dessen Idee der Heiratsschwindel eigentlich gewesen sei. »Francesca, was hast Du mir angetan?«, fragt er. Das mag man sich als Zuschauende auch fragen, da Francesca ja nun sehr wenig zu diesem Schlamassel beigetragen hat. Um die Bestätigung seiner Eifersucht zu erhalten, stellt er Francesca und Paolo eine Falle und gibt vor abzureisen – nur um beide auf frischer »Tat« zu ertappen. 

Das zweite Bild gehört Francesca und Paolo. Die Musik wird fröhlicher, schwärmerischer. Vielleicht hören wir durch die Sechzehntel-Motive in den Streichern die Schmetterlinge in den Bäuchen der Verliebten? Harfen erklingen, bevor Paolo beginnt, die Lancelot-Geschichte vorzutragen. Als sich die beiden küssen, wechselt die Stimmung schlagartig: Die Trommelwirbel der Höllenwinde lassen Böses vorausahnen.

Der Epilog versetzt uns zurück in die Hölle. »Vor lauter Mitleid verlor ich das Bewusstsein und mir war, als stürbe ich und ich stürzte wie tot zu Boden«. Diese letzten Worte Dantes am Ende des Kapitels stehen für die Quintessenz dieser Oper: Rachmaninow möchte zum Nachdenken anregen, Mitgefühl auslösen. Er fragt nach Rechten und Pflichten, nach Schuld und Schicksal, Neigung und Nötigung. Am Ende liegen die Dinge doch so: Francesca kommt in die Hölle, obwohl sie nichts weiter getan hat, als den Mann zu lieben, den sie geheiratet hat. Giovanni und Francescas Vater Guido bleiben als Doppelmörder und Betrüger unbestraft. Nach Dantes Inferno müssten sie dafür in Höllenkreis 7 und 9 schmoren.