Franz Schuberts Kammermusik ist ein Kosmos für sich. Mit seinen betörenden, gesanglichen Melodien und seiner ausdrucksstarken harmonischen Sprache lotet Schubert die Tiefen des menschlichen Empfindens und Seins aus. Freude und Leid, Liebe und Verlust, Verbundenheit und Einsamkeit vermag er in unvergleichlicher Weise auszudrücken – auch ohne Text. Seine Musik kann jedes Zeitgefühl aufheben, wie wenn man durch die Straßen einer Großstadt schlendert und sich langsam verliert. In unserem Schubert-Marathon mit Mitgliedern der Berliner Philharmoniker können Sie in diese musikalischen Landschaften eintauchen und sowohl Schubert als auch die Musikerinnen und Musiker der Berliner Philharmoniker aus einer neuen Perspektive erleben.
»Dein Lied ist drehend wie das Sterngewölbe, / Anfang und Ende immerfort dasselbe, / Und was die Mitte bringt, ist offenbar / Das, was zu Ende bleibt und anfangs war.« Keinen anderen Autor hat Franz Schubert häufiger vertont als Goethe. So mag man an diese Verse aus Goethes West-östlichem Divan denken, wenn man Schuberts Musik hört.
In Schuberts Musik vergeht die Zeit anders. Sie gleicht nicht dem Pfeil, der vorüberfliegt, auch nicht dem Weg von A nach B oder vom Tal auf den Gipfel, sie gleicht auch nicht dem Kreis, der perfekten geschlossenen Form. Sie ähnelt vielmehr einer Endlosschleife, einer liegenden Acht, den zugleich auf- und absteigenden Treppen in M. C. Eschers illusionistischen Lithografien oder einer Fahrt im Paternoster. Schuberts verschlungene, sich selbst bespiegelnde Formen heben das Zeitbewusstsein auf und erzeugen das Gefühl einer ewigen Wiederkehr: ein Gefühl, das zum Traum und zur Trance neigt, manchmal aber auch zur Klaustrophobie und zum Albtraum.
Über Schubert wurde zu allen Zeiten viel geschrieben, mehr noch über ihn als über seine Musik. Doch 227 Jahre nach seiner Geburt und 196 Jahre nach seinem frühen Tod lässt sich feststellen, dass auch die Berichte, Erzählungen, Zeugnisse, Kommentare und Analysen »drehend wie das Sterngewölbe« erscheinen, um es mit Goethe zu sagen.
Zu den unerschütterlichen Schubert-Dogmen, die »zu Ende bleiben und anfangs waren«, gehört seit eh und je die einseitige Identifikation des Komponisten mit dem Prädikat des »Liederfürsten«. Dieser Ehrentitel kam im 19. Jahrhundert, in der Epoche der monumentalen Symphonien und gigantischen Musikdramen, einem vergifteten Kompliment gleich.
Nicht von ungefähr beklagte sich Hugo Wolf zwei Generationen später über diese »Schubladisierung«, obgleich er im Gegensatz zu Schubert tatsächlich kaum etwas anderes als Lieder schrieb: »Die schmeichelhafteste Anerkennung als ›Liederkomponist‹ betrübt mich in die innerste Seele«, beschwerte sich Wolf. »Was anders will es denn bedeuten, als eben einen Vorwurf, daß ich immer nur Lieder komponiere, daß ich doch nur ein kleines genre beherrsche.« Franz Schubert jedenfalls hinterließ Sonaten, Symphonien (sogar große), Streichquartette, Messen, Opern – und geriet doch in die Sackgasse eines ignorant reduzierenden Nachruhms.
Anfang 1829, wenige Wochen nach Schuberts Tod im Alter von 31 Jahren, befand auch sein Freund und Förderer, der Lotteriedirektor Josef von Spaun: »Bei aller Bewunderung, die ich dem Teuren seit Jahren schenke, bin ich doch der Meinung, daß wir in Instrumental- und Kirchenkompositionen nie einen Mozart oder Haydn aus ihm machen werden«, und schlägt seinem Biografen vor, ihn als »Liederkompositeur« zu bezeichnen.
Gerechterweise sollte aber nicht verschwiegen werden, wie sehr sich Spaun eines Tages selbst widersprach und umstandslos auf die Seite derer wechselte, die es schon immer besser gewusst hatten: »Während man in Wien seinen Liedern einige Anerkennung zollte, verwarf man seine ebenso schönen Instrumental-Kompositionen, und erst Mendelssohn und Schumann, die beide für Schubert begeistert waren, haben die Wiener auf die Pracht seiner Instrumental-Kompositionen aufmerksam gemacht, die nun freilich mit größtem Beifalle gegeben werden. Bald vierzig Jahre nach dem Tode Schuberts weiß man erst eigentlich in Wien, was man an ihm gehabt und verloren.«
Und trotzdem – noch am Ende desselben Jahrhunderts musste für Schubert eine Lanze gebrochen oder ein Plädoyer gehalten werden. Antonín Dvořák räumte mit allerhand Vor- und Fehlurteilen auf, als er 1894 einen Zeitungsartikel über Franz Schubert veröffentlichte und ihn mit Mozart auf eine Stufe stellte: »Schubert und Mozart haben vieles gemeinsam; bei beiden finden wir dasselbe delikate Gespür für das instrumentale Malen, den gleichen spontanen und ununterdrückbaren Fluss der Melodie, die gleiche instinktive Beherrschung der Ausdrucksmittel und die gleiche Vielseitigkeit in allen Zweigen ihrer Kunst.« Wohlgemerkt: in allen Zweigen! Und Dvořák dachte dabei erklärtermaßen auch an Schuberts Kammermusik: »Besonders seine Streichquartette und seine Trios für Klavier, Geige und Violoncello müssen zu den besten ihrer Art in der gesamten Musikliteratur gezählt werden.«
Dieser Ansicht würde heute niemand mehr widersprechen. Gleichwohl kann von einer echten Repertoiregerechtigkeit noch immer keine Rede sein. In der Wertschätzung der Klaviersonaten, und nicht nur der letzten drei aus dem Todesjahr 1828, ist viel an Bewegung, Entdeckung und Besinnung in den vergangenen Jahrzehnten zu verzeichnen.
In der Kammermusik dagegen sind die Spielräume noch längst nicht ausgereizt und der Nachholbedarf selbst vier Jahre vor seinem 200. Todestages noch beträchtlich. Schubert hatte schon in ganz jungen Jahren Streichquartette komponiert, aber vorerst unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Schubert, der selbst die Violine und die Bratsche erlernt hatte, suchte und fand jede Gelegenheit, sich mit seinen Freunden zum Quartettspiel zu treffen, erprobte neue Werke ganz ungezwungen im Kreis von Mitschülern oder der Familie.
Bereits in den ersten Quartetten zeigt sich Schuberts Hang zum Mantra, zum Noch- und Nochmalsagen, zu in sich kreisenden Melodien und verkapselten Bewegungen, ein hypnotischer, suggestiver, zuweilen auch obsessiver Zug. Schon aus den frühesten Gelegenheitsquartetten und Jugendwerken spricht das ganz andere Formverständnis und Zeitgefühl dieses Komponisten.
Franz Schubert war zu seinen Lebzeiten gewiss kein internationaler Künstler wie Händel oder Mozart, kein europaweit berühmter Kapellmeister wie Haydn, kein Titan wie Beethoven, auch kein Star wie Rossini oder Paganini. Der »kleine Umkreis« aber, in dem er lebte und sich auskannte, war die Großstadt: Wien als Schauplatz der Gesellschaft, der Salons, der Bälle und Feste, des Theaters, der Debatten, der Moden, der Kaffeehäuser und Heurigen, der Modernität, der Migration, des Vergnügens, der gärenden Unruhen und unterdrückten Umstürze.
Schubert bewegte sich in Wien, zwischen den Leuten, auf den Straßen und Plätzen, ganz in seinem Element. Auch als Komponist: Schubert kreierte eine neue, lässige, großstädtische, multikulturelle Art der Musik. Und so sei am Ende doch ein Fazit riskiert oder eine Vermutung: Franz Schuberts Musik ist so modern, so zukünftig mit ihren Zeitschleifen, dem Seitenwechsel ins Unbewusste, ihrem Surrealismus, den offenen Formen ohne Anfang und Ende, den Abgründen und Abstürzen, den großstädtischen Neuigkeiten, dass sich die Gespräche über ihn zwangsläufig im Kreis drehen müssen, auch wenn jede Generation »ihren Schubert« für sich entdeckt, immer zum ersten Mal, aber nicht unbedingt anders. Oder wie es in Goethes Divan heißt: »Nun töne Lied mit eignem Feuer! / Denn du bist älter, du bist neuer.«