Autor*in: Nicole Restle
ca. 5 Minuten

Schwarz-Weiß-Porträt von Germaine Tailleferre. Sie trägt einen dunklen Hut und einen Mantel mit einem üppigen Pelzkragen. Ihr Gesichtsausdruck ist ernst, und sie blickt direkt in die Kamera.
Germaine Tailleferre, ca. 1940 | Bild: Collection Dupondt / akg-images

Mit dem Komponistenkollektiv »Groupe des Six« mischte sie in den 1920er-Jahren das französische Musikleben auf und geriet dennoch in Vergessenheit: Germaine Tailleferre. Ende September spielen die Berliner Philharmoniker mit ihrer Soloharfenistin Marie-Pierre Langlamet deren Concertino für Harfe und Orchester. Porträt eines bewegten Lebens.

»Helles Gesicht, lachendes Auge, das blonde Haar quer über die halbe Stirn: Sie war wirklich die ›Prinzessin der Six‹« – mit diesen Worten beschrieb eine Freundin Germaine Tailleferre. Und sie bemerkte weiter: »Uns anderen Frauen war es angenehm zu sehen, wie sich eine von uns so gut wie möglich emanzipierte.« Mit nicht einmal 30 Jahren zählte die Komponistin Germaine Tailleferre Anfang der 1920er-Jahre zu den Berühmtheiten des Pariser Musiklebens. Diesen Ruhm verdankte sie vor allem der Tatsache, dass sie der legendären »Groupe des Six« angehörte – als einzige Frau neben ihren männlichen Kollegen Darius Milhaud, Arthur Honegger, Francis Poulenc, Georges Auric und Louis Durey.  

Musik als Lebensgefühl

Die »Groupe des Six«, die in der Rückschau als avantgardistische Reformbewegung der damaligen französischen Gegenwartsmusik erscheint, war eigentlich ein Zufallsprodukt. Ihre geistigen Väter: der Schriftsteller und Regisseur Jean Cocteau und der Komponist Erik Satie, die nach ästhetischen Gegenentwürfen zum Impressionismus und zur romantischen Musik, allen voran der Klangsprache Richard Wagners, suchten. Diese hielten sie für klanglich überfrachtet, verweichlicht, ausufernd, gefühlstriefend. Cocteau und Satie setzten auf sogenannte »Alltagsmusik«, Klänge, die sie auf der Straße, im Zirkus, im Varieté und in Jazzlokalen aufgeschnappt hatten. Sie propagierten knappe Formen und einen musikalischen Stil voller Witz und Ironie. Ihre Ansichten und Ideen begeisterten die junge Generation Musikschaffender. Satie hatte bereits ab 1917 unter dem Namen »Les Nouveaux Jeunes« (die neuen Jungen) eine Gruppe junger Komponistinnen und Komponisten um sich geschart, darunter Darius Milhaud und Germaine Tailleferre, beide Studierende des Pariser Konservatoriums. 

Als Frau unter Männern

Germaine Tailleferre war damals bereits im Pariser Kulturleben bestens vernetzt – nicht nur im Bereich der Musik. Sie verkehrte in Künstlerkreisen um Emmanuel Centore, Guillaume Apollinaire, Marie Laurencin oder Pablo Picasso. Von Letzterem erhielt sie den Rat, ständig nach Neuem zu suchen und nicht auf bewährte »Rezepte« zu setzen. »Das war die beste Kompositionsstunde, die ich je bekommen habe«, meinte Germaine Tailleferre. Die jungen Künstlerinnen und Künstler trafen sich, tauschten sich aus, stellten ihre Arbeiten vor, amüsierten sich. Satie veranstaltete Bilder-Ausstellungen, zu denen die »neuen Jungen« ihre Kompositionen als Hintergrundmusik beisteuerten, als diskretes akustisches Interieur. 

Diese sogenannte »musique d‘ameublement« war in Paris der letzte Schrei. Im Januar 1920 veröffentlichte ein Journalist über eines dieser Konzerte, das von fünf Komponisten und Germaine Tailleferre bestritten wurde, einen Artikel, der Aufsehen erregte: In diesem schrieb er – in Anspielung auf »les cinq Russes«, einer Vereinigung von fünf russischen Komponisten, auch bekannt als »das mächtige Häuflein« – von »les six Français«. Die »Groupe des Six« war geboren. Sie realisierte sogleich zwei Gruppenwerke, die große Beachtung fanden: das Album des Six, in dem jedes Mitglied ein Klavierstück veröffentlichte, und das Kollektivballett Les Mariés de la Tour Eiffel. Gleichwohl blieb die Gruppe als aktives Künstlerkollektiv nicht lange zusammen. Ihre Mitglieder gingen bald eigene künstlerische Wege, freundschaftlich fühlten sie sich allerdings ein Leben lang verbunden.

Juanjo Mena

Marie-Pierre Langlamet präsentiert Germaine Tailleferres Concertino für Harfe und Orchester

Aller Anfang ist schwer

Germaine Tailleferre, die 1892 als Tochter eines Weinhändlers in einem Pariser Vorort zur Welt kam, hatte kein leichtes Komponistinnenleben. Ihre musikalische Begabung zeigte sich schon früh. Bereits als Zweieinhalbjährige spielte sie Melodien auf ihrem Spielzeugklavier nach, mit acht Jahren schrieb sie ihre ersten Kompositionen, außerdem konnte sie gut malen und zeichnen. Von der Mutter in ihren künstlerischen Ambitionen unterstützt, wollte der Vater ihr eine professionelle musikalische Ausbildung verwehren. Für ihn war das gleichbedeutend mit Prostitution. Germaine studierte heimlich, gewann am Pariser Konservatorium eine Auszeichnung nach der anderen – da konnte sich der Vater schließlich nicht mehr verweigern und erlaubte ihr das Studium, allerdings unter der Bedingung, dass sie selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommt. Das notwendige Geld verdiente sie fortan mit Musikunterricht. 

Erfolge und Niederlagen

Zu Beginn der 1920er-Jahre stellten sich auch die ersten Erfolge als Komponistin ein. Ihre klare, frische, elegante Klangsprache passte zum damaligen Lebensgefühl und entsprach ganz der neoklassizistischen Ästhetik, die in jener Zeit aufkam. Ihre Kompositionen wirkten modern, sachlich, aber gleichzeitig unbeschwert, schwebend und voller französischem Esprit. Igor Strawinsky und Maurice Ravel, mit denen sie befreundet war, schätzten ihr handwerkliches Können, ihren Sinn für Proportionen und ihren sicheren musikalischen Instinkt. 1925 ging Germaine Tailleferre nach Amerika. Dort befreundete sie sich mit Charlie Chaplin, mit dem sie am Klavier improvisierte. Trotz erfolgreicher Konzertauftritte erfüllte sich ihre Hoffnung auf eine feste Anstellung an einer amerikanischen Hochschule nicht. 

Stattdessen heiratete sie einen bekannten amerikanischen Karikaturisten. Diese Ehe und auch die folgende Ehe mit einem Rechtsanwalt, die sie nach ihrer Rückkehr nach Frankreich einging, gestalteten sich nicht glücklich. Beide Männer waren auf die künstlerischen Erfolge ihrer Frau eifersüchtig und versuchten sie am Komponieren zu hindern. Wie die Komponistin später bekannte, hatte sie vor allem geheiratet, um materiell abgesichert zu sein. Wirklich frei fühlte sich Germaine Tailleferre erst nach der Scheidung von ihrem zweiten Mann in den 1950er-Jahren. Ein wahrer Schaffensrausch folgte. Allerdings hatte sich die musikalische Ästhetik mittlerweile weiterentwickelt, serielle Techniken und elektronische Musik kamen in Mode. Mit beiden konnte sich die Komponistin, die dem Neoklassizismus verhaftet blieb, nicht anfreunden. Um finanziell über die Runden zu kommen, schrieb sie Musik für Hörspiele und Filme und arbeitete zeitweise sogar als Möbelrestauratorin und Malerin. Sie trat als Liedbegleiterin auf, unterrichtete Klavier und nahm als 84-Jährige noch eine Stelle als Musiklehrerin an einem Gymnasium an. 

Als Germaine Tailleferre 1983 im Alter von 91 Jahren und mit späten Ehrungen ausgezeichnet starb, hinterließ sie ein Œuvre von fast 300 Werken: Klavier- und Kammermusik in unterschiedlichsten Besetzungen, symphonische Werke, Vokalmusik, Ballette und andere Bühnenwerke. Zu ihren bekanntesten Kompositionen zählen Jeux de plein air für zwei Klaviere, das Klavierkonzert D-Dur, die Six chansons françaises sowie das Concertino für Harfe und Orchester. Der Nimbus, die einzige Frau der »Groupe des Six« zu sein, erwies sich als Segen und Fluch zugleich. Zum einen erlangte sie durch die Groupe frühen Ruhm, zum anderen stand sie stets im Schatten ihrer männlichen Kollegen. Das lag unter anderem auch daran, dass die Komponistin, obwohl ihre Musik geschätzt und anerkannt wurde, zeitlebens mit Schüchternheit und mangelndem Selbstvertrauen kämpfte. Ihr fehlte das Talent, die eigene Musik gewinnbringend zu vermarkten. In der musikwissenschaftlichen Literatur wird sie deswegen nicht nur als »Prinzessin«, sondern auch als »Mauerblümchen« der Gruppe bezeichnet. Immerhin gelang es ihr, ihren künstlerischen Weg zu gehen – in einer Zeit, in der es für eine Frau nicht selbstverständlich war, Komponistin von Beruf zu sein.