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Antje Boetius | Bild: Arc Watch / Esther Horvath

Antje Boetius leitet seit sieben Jahren als wissenschaftliche Direktorin das Alfred-Wegener-Institut in Bremerhaven. Im Frühjahr 2025 wechselt die deutsche Meeresbiologin als Präsidentin ans Monterey Bay Aquarium Research Institute in Kalifornien. Doch zuvor ist sie während der Biennale »Paradise lost?« im Diskurs in der Philharmonie zu erleben. In unserem Interview erzählt sie, worauf sie sich besonders freut, welche Rolle der Klimawandel weiterhin spielen wird – und ob wir den Ozean als gigantischen Lebensraum je wirklich verstehen werden.

Frau Boetius, Sie wechseln in Kürze als Direktorin ans Monterey Bay Aquarium Research Institute (MBARI) in Kalifornien, wo sie als junge Frau Ozeanografie studiert haben. Wird die Freude über das Wiedersehen mit Land und Leuten oder mit dem Pazifik überwiegen?

Es wird eine ungeteilte Freude mit all diesen zusammen sein. Meine Freude-Kapazität ist groß genug dafür. Und auf den wissenschaftlichen Fortschritt freue ich mich auch: Die Leitung des MBARI bietet mir eine tolle Gelegenheit, noch mehr zur Entwicklung innovativer Tiefseetechnologien beizutragen und über die faszinierende Lebensvielfalt des Ozeans zu sprechen.

Sie sprechen oft vom »Weltozean«, der den ganzen Globus verbindet. Bietet sich Ihnen in Kalifornien ein neues Forschungsgebiet oder nur verschiedene Perspektiven auf dasselbe Meer?

Das MBARI ist weltweit führend in der Entwicklung von Tiefseetechnologien wie autonomen Unterwasser-robotern, Sensorik, aber auch verschiedensten bildgebenden Techniken und anderen Beobachtungsverfahren. Vor allem gibt es dort Zeit, das Tiefseeleben selbst zu beobachten. Die Entdeckung fremden Lebens gehört zu den Zielsetzungen der Stiftung, die das Institut fördert. Auch die Integration von künstlicher Intelligenz und Big Data für Meeresforschung und Meeresschutz läuft auf hohem Niveau. Das gibt ganz neue Perspektiven sowohl für den Pazifik wie auch den ganzen Ozean. Ich möchte von da ja auch weiter mit der internationalen Polarforschung zusammenarbeiten.

Im Februar werden Sie im Rahmen einer Veranstaltung in der Philharmonie Berlin diskutieren, ob der Klimawandel von der politischen Agenda verschwindet. Ist diese Frage in einer zweiten Amtszeit Donald Trumps als US-Präsident brisanter denn je?

Klima- und Umweltschutz verschwinden ganz bestimmt nicht von der politischen Agenda. Auch nicht in Amerika. Es wird ja immer deutlicher, dass Klimaschutz die ökonomischste Form der Zukunftsgestaltung und eine bestimmende Frage in Gesundheit, Energie, Finanz-wesen ist. Weder den Chancen der Transformation noch den zunehmenden Schäden des »Weiter so« kann sich ein Land langfristig entziehen. 

Die Meeresforschung begeht weitgehend unbemerkt ein Jubiläum: Vor 150 Jahren war die HMS Challenger für mehrere Jahre auf den Weltmeeren unterwegs. Diese Expedition war ein gigantisches Unterfangen und gilt als Startschuss der Ozeanografie. Hat sie heute noch Bedeutung? 

Unbedingt. Die HMS Challenger-Expedition (1872–1876) gilt zu Recht bis heute als Meilenstein in der Geschichte der Ozeanografie, wie auch die deutsche Antwort darauf, die Valdivia-Expedition von 1898 bis 1899. Diese weltumspannenden Tiefseeexpeditionen legten den Grundstein für die moderne Meereswissenschaft. Schnell wurde klar, dass die Tiefsee entgegen der damaligen Annahme voller Leben steckt. 

Die HMS Challenger brachte abertausende Proben und eine Fülle an Messdaten zurück. Mittlerweile werden auch mit High-Tech-Ansätzen wie Unterwasserrobotern ungeheure Datenmengen erzeugt, deren Auswertung kaum zu bewältigen ist. Können wir den Ozean, diesen gigantischen Lebensraum, je wirklich verstehen?

Es gibt tatsächlich noch eine riesige Menge an unbeantworteten Fragen. Dazu gehört die Suche nach dem Beginn des Lebens im Ozean wie auch die Frage, wie die Kipppunkte der Erde mit und ohne Eisbedeckung genau funktionieren und welche davon durch die immer höhere CO₂-Ansammlung in der Atmosphäre wann genau erreicht werden. Aber auch Fragen nach den Tricks des Lebens im Ozean bleiben offen, wie die nach dem unglaublichen Alter mancher Lebewesen, ihrer Kommunikationsfähigkeit und ihrem Immunsystem. 

Wer Aliens sucht, muss sich nur mit der Tiefsee beschäftigen. Die Forschung liefert immer mehr Eindrücke aus diesem extremen Lebensraum mit bislang unbekannten Tieren. Haben Sie einen Favoriten unter den Neuentdeckungen?

Ich bin immer wieder fasziniert von der erstaunlichen Vielfalt von Leben im Ozean, bis in die größten Tiefen. Und dann gibt es auch immer wieder neue Landschaften am Meeresboden, von denen keiner etwas weiß. Unser Team von Forschenden hat zum Beispiel etwa 60 Millionen Nester antarktischer Eisfische auf 240 Quadratkilometern im Weddellmeer entdeckt. Eine erstaunliche Entdeckung, die nur durch hochspezialisierte Technologie unter Eis möglich war. Für mich und mein Team war es auch ein Zeichen dafür, wie dringend die Einrichtung von Meeresschutzgebieten rund um die Antarktis ist. Aber auch unsere kürzliche Entdeckung von gigantischen Schwamm-Bergen in der Arktis ist aufregend. Schwämme, die kriechen können und mehrere hundert Jahre alt werden. Toll.

Oft wird für den Erhalt der Ozeane mit dem Hinweis auf möglichen Nutzen geworben, neben der Nahrung sind das etwa potenzielle medizinische Wirkstoffe, die von Meerestieren produziert werden. Ist das der richtige Ansatz? 

Die Ozeane sind das Zuhause der größten genetischen Ressource des Universums. Es ist zu erwarten, dass wir von den Meeresorganismen noch viele wichtige Biotechnologien abschauen können. Sie haben Tricks, um älter zu werden als anderes Leben. Sie können mit weniger Energie und in Symbiose mit anderen Organismen leben. Zu den Wertschöpfungen gehören jetzt schon verschiedene bioaktive Stoffe, die in der Krebsmedizin oder als Ersatz von Antibiotika sowie gegen Zellalterung wichtig sind. Enzyme von Meereslebewesen werden in der Lebensmittel- und Energieindustrie eingesetzt. Die genetische Vielfalt in der Hohen See birgt so viele Lösungen! Mit der Forschung sind wir ganz am Anfang, wir haben ja noch nicht einmal ein Promill des Lebensraumes erforscht.

Sie sprechen sich dafür aus, »Überlebenswissen« zu stärken. Das sind oft indigene Praktiken bei einer Lebensweise, die pfleglich mit der Natur umgeht. Der Ozean war gerade in der Tiefe bis vor relativ kurzer Zeit unzugänglich für Menschen. Gibt es hier trotzdem nachhaltiges Wissen? 

Es gibt Mythen und Erzählungen in vielen indigenen Kulturen, bei denen es darum geht, dass der Ozean den Menschen Geschenke macht und ihnen hilft, wenn diese gut mit ihm umgehen, nicht verschwenderisch sind und ein Gleichgewicht pflegen. Viele der Meereslebewesen spielen eine Rolle als Geschöpfe mit Funktionen im Leben und Erdsystem oder sind gar göttlich oder menschlich. Das heißt, dass in vielen Kulturen dem Meer und seinem Leben ein wesentliches Recht auf Existenz gegeben wird und es nicht nur einfach als Ressource gesehen wird. Die Forschung zeigt zudem das immense naturwissenschaftliche Verständnis der frühen seefahrenden Völker auf, von den Inuit im Eismeer bis zu den polynesischen Inseln. Sterne, Ozeanströmungen, Winde, Kenntnis der Migration von Vögeln und Walen, das alles spielte eine Rolle bei der Navigation und beim Überleben.

Sie forschen aktiv, werden auch künftig ein großes Institut leiten und sind gleichzeitig sehr engagiert in der Vermittlung von Wissenschaft. Welche Botschaft zur Bedeutung der Ozeane sollten die Menschen – auch in der Politik – mitnehmen?

Dass der Ozean Teil der Lösung sein muss für ein friedliches Leben im Gleichgewicht mit Klima und Natur. Die Wassermassen, die 70 Prozent der Erdoberfläche bedecken, nehmen 93 Prozent der Wärme auf und verteilen sie so um, dass wir ein lebensfreundliches Klima haben. Der Ozean nimmt derzeit noch 25 Prozent des CO₂ auf, das wir emittieren, und produziert außerdem einen Großteil des Sauerstoffes, den wir atmen. Ich habe das hoffnungsvolle Gefühl, dass dieses Wissen von der Rolle des Ozeans stärker in politisches Handeln eingeht – es gibt viele neue Impulse zum Meeresschutz und viel mehr internationale Zusammenarbeit. Eine Basis wäre, dass die Kosten von Natur-, Umwelt- und Ressourcennutzung weltweit ehrlich und nachvollziehbar bepreist werden und die Subventionen umweltschädlicher Prozesse abgebaut werden. Dass wir die Unverzichtbarkeit der Leistungen der Natur anerkennen und diese als globales Gut schützen und daraus neue Geschäftsmodelle erschließen, die mehr soziale Teilhabe ermöglichen.