Autor*in: Malte Krasting und Tobias Möller
ca. 14 Minuten

Kirill Petrenko mit den Berliner Philharmonikern in Tokio, 2023 | Bild: Monika Rittershaus

Fast ein Jubiläum: Seit fünf Jahren ist Kirill Petrenko Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Aus diesem Anlass haben wir im Laufe dieser Saison mehrfach mit ihm gesprochen. Es werde für ihn »nie normal sein«, vor diesem Orchester zu stehen, so Kirill Petrenko. Weitere Themen waren seine Ausbildung in Österreich mit dem »verrücktmachenden Klang« der Wiener Musiktradition, das Erlernen von Deeskalation und Konfliktmanagement an der Oper – und die fragilen Momente des Glücks in seiner Arbeit.

Das Ausloten von Extremen · Ideale Interpretationen

Herr Petrenko, Sie sind seit fünf Jahren Chefdirigent der Berliner Philharmoniker. Fühlt sich das wie eine lange Zeit an?

Nein, überhaupt nicht. Ich habe ja schon in den drei Jahren zuvor eng mit dem Orchester zusammengearbeitet. Aber das ist alles für mich noch frisch und überraschend wie am ersten Tag. Ich glaube auch nicht, dass sich je der Eindruck einer langjährigen Beziehung einstellen wird, unsere Zusammenarbeit fühlt sich immer sehr gegenwärtig an. Wir fordern uns jeden Tag aufs Neue gegenseitig heraus.

Was passiert bei diesem Sich-Herausfordern?

Ich selbst muss das Orchester herausfordern, im positiven Sinn an seine Grenzen zu gehen. Es geht darum, die Komfortzone zu verlassen und die Extreme auszuloten. Im Konzert kann es passieren, dass man wieder einen Schritt zurücktritt. Aber grundsätzlich sehe ich es als eine meiner wichtigsten Aufgaben, das ganze unerschöpfliche Potenzial dieses Orchesters abzurufen. 

Und wie fordert das Orchester Sie heraus?

Mit dem, was jeder und jede in die Interpretation einbringt. Es gibt unterschiedlichste Sichtweisen, wie eine bestimmte Phrase zu spielen ist. Der eine möchte sich mehr Zeit nehmen, der andere eine Stelle effektvoller spielen. Ich bekomme sehr viel angeboten und muss das in eine Form bringen, die der Partitur entspricht.

Was machen Sie, wenn die Wünsche des Orchesters nicht mit Ihren Vorstellungen konform gehen?

Ich komme zu den Proben mit einer genau vorbereiteten Auffassung. Wenn ich das nicht täte, würde ich mich vor diesen großartigen Musikern verlieren. Und dann kommt es zu einer Synthese. Ich nehme auf, was mir die Orchestermitglieder anbieten, wir sprechen darüber, bei der Probe oder danach. Jeder, der sich einbringt, soll sich wohl fühlen und den Eindruck haben: Mein Wert wird gesehen, ich habe die Möglichkeit, mein Können zu zeigen. Das muss ich einbinden in das, was der Komponist vorgibt. 

Haben Sie eine bestimmte Technik, um das Orchester an seine Grenzen zu bringen?

Ich versuche, die Musikerinnern und Musiker gewissermaßen zu provozieren – ihnen immer bewusst zu machen, dass wir ein besonderes Orchester sind. An jedem Pult sitzt ein Musiker von enormer Begabung und Ausstrahlung. Das bringt aus meiner Sicht eine Verpflichtung mit sich. Wir müssen aus einer Partitur herausholen, was der Komponist wollte, und eigentlich noch mehr. Ich sage oft in der Probe: Mit Ihrem Potenzial dürfen wir nicht auf Nummer sicher gehen. Davon fühlen sich die Musiker angespornt. 

Gab es in Ihrer bisherigen Zusammenarbeit Momente, wo Sie Ihrem Ideal einer Interpretation nahegekommen sind?

Die gibt es immer wieder, mal in der Probe, mal im Konzert. Ich erwarte sehr viel von diesen Musikern, genau wie umgekehrt. Trotzdem kommt es vor, dass meine Erwartungen an Schönheit oder Homogenität noch übertroffen werden. Es geht nicht so sehr darum, dass eine Stelle perfekt gelingt, sondern dass sich die Anforderungen des Komponisten und das Können der Musiker ganz decken. Das sind fragile Glücksmomente, die man natürlich nicht jeden Abend erlebt.

Haben Sie ein Beispiel?

Neulich war so ein Moment am Ende des zweiten Satzes von Dvořáks Siebter Symphonie. Dieses Verklingen im Pianissimo habe ich mir immer so gewünscht, aber in den Proben gab es nie Zeit, ausführlich an dieser Stelle zu arbeiten. Und plötzlich, im letzten Konzert der Serie, klang sie nicht nur, wie ich sie mir vorgestellt hatte, sondern noch schöner. 

Welche Rolle spielt generell der Zeitfaktor?

Eine Interpretation muss reifen. Wir arbeiten immer zwei Tage an einem Werk, das ist nicht viel. Aber von Konzert zu Konzert entwickelt das Orchester das Werk stark weiter. Gerade am Ende einer Tournee, nachdem wir ein Programm sehr oft gespielt haben, kommt es dann zu solchen unvergesslichen Abenden. Smetanas Má vlast zum Beispiel ist ein sehr schweres Stück, mit dem wir intensiv gerungen haben. Wir haben es in Berlin und Prag gespielt, dann beiseitegelegt und im vergangenen Herbst mit auf Tournee genommen. Bei der letzten Aufführung in der Londoner Royal Albert Hall hat das Werk dann einen Sprung gemacht. Das sind besondere Abende, wo alles zusammenkommt: die Qualität des Orchesters, der Reifeprozess und auch ein wenig Glück. Denn auch das braucht es – manchmal kann man Berge versetzen, manchmal ist man ein bisschen müde, dann versucht man einfach sein Möglichstes. Aber an diesem Abend in London hat alles gestimmt.

»Alles« bedeutet Ausdruck, Technik, Schönheit …?

… Klang, Organik, Perfektion, Leidenschaft, Empfinden und auch die Harmonie zwischen Orchester und Dirigent. Diese Dinge können nicht immer perfekt zusammenkommen. Aber wenn es so ist, erinnert man sich sein ganzes Leben daran.

Wie oft versuchen Sie, im Konzert Dinge anders zu machen als in der Probe?

Eigentlich machen wir das jeden Abend hier und da. Nur wage ich es nicht so oft und umfassend, wie es wohl möglich wäre. Das ist die Kehrseite der hohen Erwartungen, die man an uns stellt. Diese Erwartungen sind durchaus eine Bürde, mit der wir gut umgehen müssen. Man kann nicht mit hundertprozentiger Spontaneität das Steuer im Konzert herumreißen. Ich lerne noch, das auszutarieren. Es kommt vielleicht eine Zeit, in der wir mehr riskieren können.

Bruckner und Mahler · Jüdische Wurzeln · Ausbildung zum Dirigenten

Sie haben diese Saison mit Bruckners Fünfter Symphonie eröffnet, im Mai werden Sie Mahlers Neunte dirigieren. Viele frühere Dirigenten haben sich entweder auf Bruckner oder auf Mahler spezialisiert. Wie ist das bei Ihnen?

Durch meine Herkunft, meine Ausbildung und meinen Werdegang war mir Mahler immer nahe. Aber meine österreichische Zweitheimat hat mir dann noch eine weitere Perspektive eröffnet – dadurch, dass ich als junger Mensch in Vorarlberg das Österreich abseits der Metropolen kennengelernt habe. Ich habe eben nicht nur in Wien studiert, sondern auch in Feldkirch, wir haben in Bregenz und Hohenems gewohnt. 

Auch Bruckner kam aus der Provinz.

Und das hört man seiner Musik an. Seine Symphonien sind gewaltige Musiklandschaften, es gibt Täler, Berge, Eisblöcke, Regen. Das versteht man besser, wenn man Gegenden wie Vorarlberg und die Menschen dort kennt. Ich war oft in den Bergen und habe als Student viele Kleinstädte kennengelernt. Das ist etwas ganz anderes als das k.u.k-Österreich in Wien, nämlich eine naturverbundene, einfache und beständige Welt. An diese Zeit in Vorarlberg denke ich immer zurück, wenn ich Bruckner dirigiere.

Und wie ging es Ihnen mit Mahler als Komponist der Metropole?

Mahler wurde für mich wichtig, als ich zum Studium nach Wien kam. Im Musikverein, im Konzerthaus, in der Staatsoper: Überall war sein Geist präsent. Das hat meine Verehrung für Mahler natürlich verstärkt.

Inwiefern hat die Wiener Mahler- und Bruckner-Tradition Sie geprägt?

Es gibt eine besondere Verbindung zwischen dem Goldenen Saal im Musikverein, der Staatsoper und dem Wiener Klang: diesem süffigen, morbiden, verrücktmachenden Sound, bei dem man ständig Gänsehaut und Schmetterlinge im Bauch hat. Ich war in unzähligen Mahler-Konzerten und habe natürlich auch einiges von Bruckner gehört. Da bekommt man ein gewisses Klangbild mit, in dem die Musik zergeht, in dem sich langsam alles auflöst: die verwobenen Instrumente, die Stimmen, die Harmonien. Es gibt in diesem Klang eine gewisse Jugendstil-Dekadenz, die einem auch überall in der Stadt begegnet. Etwa wenn man nach einem Mahler-Konzert an der Secession vorbeigeht. Oder die Staatsoper, an der Mahler selbst Direktor war – das sind Plätze von großer Authentizität, an denen man spürt: Man ist an der Quelle.

Gibt es Aspekte an Mahlers Persönlichkeit, die Sie besonders angesprochen haben?

Sein Judentum hat für mich eine große Rolle gespielt, weil es da natürlich eine Verbindung zu mir selbst gibt. Wobei meine Familie während meiner Kindheit und Jugend in der Sowjetunion keine Beziehung zum Judentum hatte. Wir kannten ein paar Bräuche und Feiertage, aber nur von den Großeltern und Urgroßeltern. Ich selbst konnte keine Beziehung zu dieser Religion aufbauen, was ich heute sehr schade finde. Aber ich hatte diese Sehnsucht nach Religiosität, die ich auch in Mahlers Musik spüre. Es ist keine Religiosität im konfessionellen Sinne, sondern eine Sehnsucht nach dem Sakralen an sich, nach dem in Mahlers Achter Symphonie angerufenen »Schöpfergeist«. Das findet man in jedem seiner Werke. 

Wie nahe ist Ihnen Mahlers Gefühlswelt insgesamt?

Es gibt bei Mahler dieses Empfinden von Fremdsein, in dem ich mich wiederfinde. Mahler hat ja von sich gesagt: »Ich bin dreifach heimatlos: als Böhme unter den Österreichern, als Österreicher unter den Deutschen und als Jude in der ganzen Welt.« Das Gefühl kannte ich nach meiner Emigration aus der Sowjetunion auch.

Das Judentum klingt bei Mahler nicht nur als Religion an, sondern auch als kulturelle Tradition.

Ja, das ist unüberhörbar. Einige meinen, Mahler habe insgesamt jüdische Musik geschrieben. Das halte ich für falsch. Natürlich gibt es gewisse Elemente des Klezmer, die er in seiner Kindheit in Böhmen von jüdischen Tanzkapellen gehört und dann aufgegriffen hat – etwa in der Blasmusik in der Ersten Symphonie. Aber das sind Artefakte. Mahlers Musik ist nicht jüdisch, sondern universell.

Sie sagten eben, dass Sie zur jüdischen Religion keine Bindung haben. Auch nicht zu dieser jüdischen Klangkultur?

Auch das nicht. In der Sowjetunion mussten wir alles tun, um zu verbergen, dass wir Juden sind. Ständig und überall habe ich antisemitische Bemerkungen gehört, im Bus, im Supermarkt, im Kino. Das war sehr unangenehm. Natürlich haben mir meine Eltern immer wieder in Erinnerung gerufen, wo ich herkomme. Aber mit der lebendigen jüdischen Musikkultur bin ich nicht in Berührung gekommen.

Bedauern Sie das? 

Natürlich. Vielleicht kann ich das später einmal nachholen. Nur wenn ich in Israel bin, spüre ich deutlich, dass ich Jude bin. Wenn auch ein ganz anderer als die Juden in Israel. 

Wir würden gern auf Ihre Ausbildung in Vorarlberg und in Wien zurückkommen. Was lernt man eigentlich im Dirigierstudium?

Da gibt es zunächst die Dirigiertechnik – die ist wichtig, aber man versteht sie bereits nach zwei, drei Sitzungen. Dirigieren lernt man nur durch Praxis. Man beginnt natürlich nicht am Pult eines Orchesters. Ich habe in Vorarlberg korrepetiert und alle möglichen Instrumente am Klavier begleitet, ich habe einen Laienchor aus Senioren dirigiert, ich habe alles an Praxis mitgenommen, was sich angeboten hat. In Wien kamen dann noch Probenbesuche bei großen Dirigenten dazu. Leider habe ich nicht mehr Karajan und Bernstein erlebt, aber Harnoncourt, Abbado und Muti. Von denen habe ich unglaublich viel gelernt.

Was zum Beispiel?

Ich war schon selbst Dirigent und habe an der Met gastiert, als Riccardo Muti dort Verdis Attila einstudiert hat. Ich saß in jeder Probe, und es war interessant zu sehen, wie er dem Orchester die Musik nahegebracht hat. Wie er alles auf das Gesangliche zurückgeführt hat, auf das rhythmische Federn, auf die Eleganz der Phrasierung. Wie gesagt: Dirigieren ist Praxis, da hilft keine Theorie.

Das heißt auch, dass man seine Interpretationsansätze nur auf offener Bühne überprüfen kann.

Ja, man produziert als Dirigent eben nicht selbst Klang, man hängt buchstäblich in der Luft. Wenn ich als Pianist eine Stelle auf fünf verschiedene Arten spiele, weiß ich danach, welcher Weg der richtige ist. Als Dirigent dagegen kann ich nicht unmittelbar verifizieren, ob gut ist, was ich mache. Dazu muss ich vor dem Orchester stehen. Dann merke ich manchmal mit Schrecken, dass eine Idee doch nicht die richtige war. Deshalb stellt man sich und seine Interpretation immer wieder in Frage. 

Und was macht man, wenn eine Idee nicht trägt? Am nächsten Tag etwas Neues ausprobieren?

Ich versuche, mit den in der Probe gesammelten Erfahrungen zu arbeiten, vielleicht einen radikal anderen Weg zu gehen, wenn ein Tempo nicht passt. Man ist in ständiger Konkurrenz mit sich selbst, man lehnt sich immer wieder selbst ab und überzeugt sich, etwas anderes zu versuchen. Diese Selbstüberprüfung hört nie auf. Das ist leider schwer.

Antrittskonzert: Kirill Petrenko dirigiert Beethovens Neunte Symphonie

Biennale der Berliner Philharmoniker · Gefühlswelten der »Pastorale« · Individualität und Neue Musik

Im Februar widmet sich die Biennale der Berliner Philharmoniker unter dem Titel Paradise lost? der Bedrohung der Natur. Wie sehen Sie generell die Chancen, mit Kultur Aufmerksamkeit für aktuelle Themen zu schaffen?

Ich denke zu hundert Prozent, dass das möglich ist, das ist seit der griechischen Antike eine der wichtigsten Funktionen der Kunst. Kunst darf sich nicht selbst genügen. Jedes musikalische Werk hat eine Botschaft, die in Beziehung zur Außenwelt steht. Ich weiß nicht, inwiefern eine besonders gute Interpretation etwas bewirken kann. Aber es gibt genügend Beispiele, wie Kompositionen etwas bewegt haben. 

An welche denken Sie?

Nehmen Sie Schostakowitschs »Leningrader« Symphonie, die im Zweiten Weltkrieg den Menschen in der eingekesselten Stadt wirklich Kraft gegeben hat. Ich wünsche mir viel mehr Werke, die uns heute etwas zu unserer aktuellen Situation sagen können.

Sie selbst dirigieren in der Biennale Beethovens »Pastorale«, die sich mit den Mitteln des frühen 19. Jahrhunderts mit dem Thema der Natur beschäftigt. Gehen Sie so ein Werk anders an als ein abstraktes Werk ohne Programm?

Wenn ein Komponist so ein Programm vorgibt, hat das natürlich Auswirkungen auf die Interpretation. Bei der »Pastorale« ist aber Beethovens Satz wichtig, die Symphonie sei »mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei«. Das ist ein entscheidender Unterschied zu früher, zu Vivaldis Vier Jahreszeiten zum Beispiel mit ihrer effektvollen Nachahmung der Natur. In der »Pastorale« gibt es zwar eine Szene am Bach mit singenden Vögeln. Aber Beethoven will in erster Linie zeigen, was wir empfinden, wenn wir Vögel hören, oder welche Angst wir haben, wenn ein Sturm aufkommt. Das ist bereits ein Vorgriff auf die Romantik mit ihrer Idee, dass Musik vor allem Gefühle ausdrücken soll.

Im selben Programm dirigieren Sie Superorganisms von Miroslav Srnka, ein Auftragswerk der Berliner Philharmoniker. Wie muss ein neues Werk sein, um Sie zu überzeugen?

Ich suche in einem neuen Werk die singuläre persönliche Botschaft. Dass da nicht einfach jemand demonstriert, was man dem Orchester alles auftragen kann: hier ein col legno, da ein Flageolett. Das Wichtigste ist für mich, dass die Individualität des Komponisten erkennbar wird. Das ist auch möglich, wenn das Werk ganz einfach und tonal klingt. 2023 haben wir Ishjärta von Lisa Streich uraufgeführt. Ich fand es von seinen Mitteln her nicht ungewöhnlich, aber es hatte Persönlichkeit. 

Wie erkennen Sie die Individualität in einem Werk? Ist das eine Sache des Gefühls?

Nicht nur. Da diese Komponisten ja meistens noch leben, entsteht ein persönlicher Kontakt. Der hilft bei der Einschätzung.

Madama Butterfly · Puccini und die Schönheit · Erfahrungen an der Oper

Bei den Osterfestspielen in Baden-Baden und danach in Berlin dirigieren Sie Puccinis Madama Butterfly. Die Protagonistin Cio-Cio-San ist ein besonderer Operncharakter: erst ein Opfer der Verhältnisse und ihres Geliebten Pinkerton, am Ende wird sie zur tragisch Handelnden, wenn sie sich das Leben nimmt. Wie sehen Sie diesen Charakter und diese Partie?

Es gibt große Anforderungen an diese Partie, und die sind nicht allein stimmlicher Natur. Die Cio-Cio-San des ersten Aktes erscheint von einer Naivität, die größer nicht sein könnte. Sie ist eigentlich noch ein Kind, 15 Jahre alt, wie sie sagt. Aber dahinter steht Cio-Cio-Sans Stärke, ihr unerschütterlicher Glaube an das Ideal der Liebe und der Ehe. Aus dieser maximalen, unkorrumpierbaren Stärke entsteht die Rolle, die wegen ihrer Doppelbödigkeit so schwer zu interpretieren ist. Die anfängliche Naivität ist ja nur äußerlich. Cio-Cio-San muss sich so geben, weil die Bräuche es erfordern. Ihre ganze soziale Situation ist schrecklich – nicht viel anders als der heutige Menschenhandel, der schon Kinder in die Prostitution zwingt.

Das heißt, die Entschiedenheit der Cio-Cio-San des letzten Akts ist im ersten Akt schon angelegt?

Ja, sie ist von Anfang bis Ende von einer unglaublichen Willensstärke und Hingabe. Die zeigt auch die Tragödie mit ihrem Kind, das sie an denjenigen weitergibt, der sie missbraucht hat – um den Weg für diesen Menschen freizumachen und sein Glück zu ermöglichen. Das ist ein Martyrium von fast religiöser Größe.

Puccini hat in seine Partitur Anklänge an japanische Musik eingeflochten. Wie gehen Sie mit denen um?

Solche asiatische Färbung gab es damals ja oft: bei Mahler, Strauss, Zemlinsky, Debussy. Sie braucht hier keine besondere Behandlung, weil sie integraler Bestandteil des Werks ist. Natürlich gibt es in Madama Butterfly Pentatonik und chinesisches Schlagwerk und einen japanischen Gong. Aber Puccini geht es nicht um Nachahmung einer fernöstlichen Musik, er schafft nur eine Hülle für die Tragödie – die sich ansonsten überall abspielen könnte, ob in Deutschland, Kroatien oder Australien.

Puccini ist ein Komponist, den man an seiner Musik sofort erkennt. Was macht für Sie seine Handschrift aus?

Bei ihm gibt es diese perfekte Mischung aus italienischer Gesangskunst, spätromantischer Harmonik und großorchestraler Instrumentation. Wenn Sie diese drei Dinge zusammennehmen, haben Sie Puccini. Hinzu kommt, dass es bei ihm keine Überzeichnung gibt. Die brauchte er nicht, weil sein dramaturgisches Gespür so eminent war. Anders als bei den späteren Veristen, deren Musik immer sehr drastisch sein musste.

Auch bei Puccini gibt es Elemente des Verismus, der nicht das idealisierte, sondern das wirkliche Leben zeigen wollte. Gleichzeitig haben wir bei Puccini diese überirdische Schönheit, die der realen Welt enthoben scheint. Wie passt das zusammen?

Die Schönheit bei Puccini ist nie Selbstzweck, sondern immer Teil seiner Konzeption. Wenn Cavaradossi in Tosca seine berühmte Arie »E lucevan le stelle« singt, dann kann sie nur an dieser Stelle stehen, wenn er sich allein vom Leben verabschiedet. Am Anfang der Arie erklingen nur Motivfetzen, ehe die große Gesangsphrase folgt. Die Schönheit entsteht also erst allmählich, sie ist genau dosiert, um die Dramaturgie zu stützen. Puccini hat nicht nach Schönheit gesucht, sondern nach Wahrheit.

Ist Puccini schwer zu dirigieren?

Ehrlich gesagt gibt es für Dirigenten keinen dankbareren Komponisten als Puccini. Natürlich ist jedes Opernwerk schwer, aber letztlich wird einem als Dirigent von Puccini viel angeboten. Es gibt unglaublich viele Details, die man gestalten kann. Ich erinnere mich an meine Arbeit an Il trittico. Es macht einfach Freude, wenn man jeden Aspekt des Werks einem Zweck zuführt, wenn alles in den Dienst des Dramas gestellt wird.

Ihr Werdegang ähnelt dem von Herbert von Karajan und Claudio Abbado, die wie Sie als Opernkapellmeister angefangen haben und später Chefdirigenten der Berliner Philharmoniker wurden. Inwiefern hilft die Arbeit am Theater als Vorbereitung?

Es war für mich ein großes Glück, schon in jungen Jahren ans Theater zu kommen und dann in Meiningen wirklich mein Handwerk zu erlernen. Das beinhaltete nicht nur die Dirigiertechnik, sondern auch das Verständnis für den Organismus Theater. Man muss gleichzeitig ganz Unterschiedliches im Blick behalten: das Orchester im Graben, die Sängerinnen und Sänger auf der Bühne, die Akustik im Saal und vieles mehr. Das Handwerk des Dirigenten geht weit über das Taktschlagen hinaus. Dazu gehört auch die Frage, wie man mit zwischenmenschlichen Beziehungen umgeht – mit dem Chor, mit dem Ensemble. Man macht Erfahrungen mit Psychologie und Konfliktmanagement. Wie deeskaliert man? Wann muss ich einen Sänger loben, auch wenn er einen schrecklichen Abend hatte? All das lernt man am Theater. Wer hier seine Laufbahn startet, ist fürs Leben gerüstet.

Ein atmendes Musizieren ist in der Oper selbstverständlich. Wie erzielt man ein gemeinsames Atmen mit einem Orchester?

Das ist Teil der Praxis, die man sich erwirbt. Irgendwann sagt einem ein Musiker: Bitte atmen Sie mit uns! Als junger Dirigent fragt man sich dann: Was ist damit gemeint? Aber dann versteht man, dass die manuelle Bewegung beim Dirigieren das Atmen einbeziehen muss. Es gibt nicht nur das Schlagen von oben nach unten, sondern auch die Luft dazwischen. Wenn du mit Sängern nicht gut atmest, werden sie keinen guten Abend haben und nicht mehr mit dir arbeiten wollen. Sänger atmen sehr unterschiedlich. Die einen brauchen zum Einatmen sehr lange, die anderen sind Kurzatmer, bei denen merkst du gar nicht, dass sie atmen. Das ist eine Wissenschaft für sich.

Das heißt, Sie müssen bei jeder Opernaufführung ständig erfassen, ob Sie einen Schnellatmer oder einen Kurzatmer vor sich haben?

Selbstverständlich. Jeder Sänger braucht eine andere Art von Auftakt. Das hängt von der Körpergröße ab, der Stimmlage, der Wendigkeit – das alles hat Auswirkungen auf das Tempo.

Gibt es Entsprechungen beim Dirigieren eines Symphonieorchesters?

Sicher, eine Posaune kann nicht wie eine Harfe atmen. Auch hier gibt es unterschiedlichste Instrumente mit unterschiedlichsten Atemvorgängen. Deshalb ist es manchmal so schwer, dass ein Akkord wirklich zusammen erklingt. Weil jeder anders atmet.

Ausblick

Herr Petrenko, wir haben unsere Begegnungen mit Ihnen mit einem Rückblick begonnen, wir möchten mit einem Ausblick enden. Was wünschen Sie sich für Ihre Zukunft mit den Berliner Philharmonikern? 

Ich habe immer noch sehr viel Respekt vor diesem Orchester. Denn das sind einfach verdammt gute Musikerinnen und Musiker. Wenn du vor denen stehst in ihrer ganzen großen Gesamtheit, musst du mental in guter Verfassung sein. Aber ich bekomme von ihnen auch sehr viel positives Feedback. Immer wieder sagen Orchestermitglieder mir, dass sie ein Konzert schön fanden. Das löst viele Zweifel in mir auf. Natürlich wünsche ich mir, dass ich in dieser Beziehung noch gelassener werde, aber darin bin ich offen gesagt limitiert. Und egal, wie viele Jahre wir noch zusammenarbeiten werden: Es wird für mich nie normal sein, vor diesem Orchester zu stehen. 

Liegt darin auch eine produktive Kraft?

Das tut es insofern, als jeder Tag mit diesem Orchester ein besonderer Tag ist. Umso glücklicher bin ich, wenn uns etwas Schönes gelingt. Denn das ist das Allerwichtigste für mich: dass ich das Gefühl habe, mit meiner Arbeit dem Orchester etwas Gutes zu tun. Nach meinem Eindruck sind die Musiker bisher grundsätzlich der Meinung, dass das der Fall ist. Sonst könnte ich meine Arbeit hier nicht für einen Tag fortsetzen, bei einem solchen Orchester kann man nicht auf Zeit spielen. Mein großer Wunsch ist, dass sich das weiterentwickelt. Je mehr Höhenflüge noch kommen, desto glücklicher bin ich.

 

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Kirill Petrenko ist seit der Saison 2019/20 Chefdirigent und künstlerischer Leiter der Berliner Philharmoniker. Geboren im sibirischen Omsk, erhielt er seine Ausbildung zunächst in seiner Heimatstadt und später in Österreich. Seine Dirigentenkarriere begründete er an der Oper mit Chefpositionen am Staatstheater Meiningen und an der Komischen Oper Berlin. Von 2013 bis 2020 war Kirill Petrenko Generalmusikdirektor der Bayerischen Staatsoper.