Oft kam es nicht vor, dass Hans Werner Henze zeitgenössische Komponisten dirigierte – abgesehen von sich selbst. Eine erstaunliche Ausnahme gab es im März 1982, als Hans Abrahamsen mit gleich zwei Orchesterstücken auf dem Programm stand, mit Befreiung, später umbenannt in Nacht und Trompeten, und den 1975 entstandenen Stratifications. Was Henze an dieser Musik fand, ist leicht nachvollziehbar. Sie vermeidet abstrakte Spielereien, besitzt eine subtile innere Spannung und folgt einer geheimnisvollen Dramaturgie, scheint also eine Geschichte zu erzählen. Über Hans Abrahamsen, dessen Hornkonzert die Berliner Philharmoniker und ihr Solohornist Stefan Dohr unter der Leitung von Paavo Järvi uraufführen, wurde einmal gesagt, er erzähle stets Geschichten, nur könne die niemand verstehen, auch Abrahamsen nicht.
Diese Diskretion muss kein Mangel sein, sie erlaubt es vielmehr dem Hörer, sich als Co-Komponist zu betätigen; es steht jedem frei, zu hören, was er will. Wobei der Fantasie allerdings einige Grenzen gesetzt sind. Abrahamsen hielt es lange Zeit mit zarten Stimmen, intimen Impressionen, die uns anwehen wie ein Traum, der am Rande des Bewusstseins in der Morgendämmerung erlischt. Existenzialistische und weltanschauliche Botschaften schickt Abrahamsen äußerst selten in die Welt, gigantische Formate sind ihm unsympathisch. Kaum eines seiner Werke dauert länger als 20 Minuten, und meist bestehen sie aus einzelnen Miniaturen. In ihnen herrscht ein gedämpfter Tonfall vor, als seien sie unter einer Schicht Schnee verborgen. Nicht zufällig bezieht sich Abrahamsen oft auf Winterlandschaften, verwendet Titel wie Schneetänze (1985), Schnee (2006/rev. 2008) oder Schneebilder (2013).
Hans Abrahamsen gehört zu der seltenen Spezies von Komponisten, die Waldhorn studiert haben. Entsprechend häufig erscheint dieses Instrument in seinen Partituren, in seinen Sechs Stücken für Violine, Horn und Klavier von 1984 wie auch in fast allen übrigen Kammermusikstücken, die das orchestrale Schaffen quantitativ weit übertreffen. Zentrale Bedeutung kommt dem 1978 entstandenen Zweiten Bläserquintett Walden zu. Es ist für Abrahamsen derart wichtig, dass er 30 Jahre später die ersten Takte in einem größeren Ensemblestück namens Wald erneut aufgriff. Dass Musik mehr ist als nur Musik, mehr als nur die Notation akustischer Ereignisse – diese Überzeugung teilt Abrahamsen mit eigentlich allen dänischen, ja nordeuropäischen Komponisten.
Schon die Entscheidung für das Waldhorn mit seinem warmen Klang und seinen Naturlauten deutete diese Orientierung an. Nach der instrumentalen Ausbildung absolvierte er ein Kompositionsstudium in Kopenhagen. Seine Lehrer waren zwei Komponisten, die im Ausland unbekannt geblieben sind, in Dänemark aber eine wesentliche und symptomatische Rolle spielten. Anstelle einer avantgardistischen Dogmatik, die zu einer unfassbaren Verarmung individueller Idiome führte, herrschte hinter den Meeren, aber eben auch in Dänemark, eine historisch gewachsene, durchaus moderne und oft genug innovative Vielfalt an Stilen.
Die Vorliebe für das Symphonische ist eine Konstante aller dänischen Musik, unabhängig von der Generationszugehörigkeit. Auch Abrahamsens nur drei Jahre älterer Landsmann Poul Ruders hat mittlerweile fünf Symphonien vorgelegt. Selbst der Deutsch-Däne Søren Nils Eichberg, Jahrgang 1973, huldigte dem anspruchsvollsten Genre schon dreimal. Hans Abrahamsen schlug einen anderen Weg ein. Zwar schrieb er 1974 eine Symphonie im klassischen Sonatenschema, doch sie erreicht mit ihren 15 Minuten nicht annähernd die Dimensionen und die expressive Kraft wie Bentzons oder Nørgårds Beiträge. Man zählte ihn deswegen zu den Vertretern der »neuen Einfachheit«. Diese Phase dauerte, grob gerechnet, bis 1990. Dann verstummte Abrahamsen fast eine ganze Dekade.
2002 zog er wieder nach Lyngby, seiner Geburtsstadt nördlich von Kopenhagen, und auch die Inspiration kehrte zurück. Das Klavierkonzert bewegt sich zunächst auf altvertrautem Gelände, bevor es krachend in den Abgrund stürzt. Noch stärker sind die Eruptionen in Vier Stücke für Orchester mit ihren Wagnertuben, Basstrompeten und dem aus Mahlers Sechster Symphonie bekannten Holzhammer. Auf einmal ist der dänische Schnee geschmolzen, und wir finden uns in den Hochregionen der deutschen Spätromantik wieder. Die von den Berliner Philharmonikern 2018 uraufgeführten Drei Stücke für Orchester wandeln auf den gleichen Pfaden, mit schwerer Ausrüstung in dünner Luft. Ein anderes von den Philharmonikern aus der Taufe gehobenes Werk ist der orchestrale Liederzyklus Let me tell you nach den 481 Vokabeln, die Hamlets Angebetete Ophelia in Shakespeares Drama verwendet. Let me tell you fand 2013 sofort Eingang ins Repertoire; es wurde nach der Berliner Weltpremiere 36 Mal in 14 Ländern gespielt. Hier erzeugen der hochartistische, ekstatische Part des Soprans und das metallisch glitzernde und herbstlich raschelnde Orchester eine unverwechselbare geheimnisvolle Aura. Der letzte Satz zelebriert ein neuromantisches Sterben in Schönheit, und die Abschiedsworte könnten nur von Abrahamsen sein, wenn sie nicht von Shakespeare wären: »Snow falls. So: I will go on in the snow …«