Bildungsbürger, Bibliothekar, Musikkritiker, Komponist, Exzentriker, Genie – Hector Berlioz vereinte viele Begabungen und Facetten in sich. Diese ungewöhnliche Mischung prädestinierte ihn, einer der visionärsten Köpfe seiner Zeit zu werden. Das Musikfest Berlin widmet dem Franzosen anläßlich seines 150. Todestags in diesem Jahr einen Programmschwerpunkt, zu dem die Berliner Philharmoniker mit der Aufführung von Berlioz' Dramatische Symphonien Roméo et Juliette beitragen.
Geboren 1803 in La Côte-Saint-André, einer kleinen Gemeinde im Département Isère, wuchs Berlioz in einer wohlhabenden, angesehenen Arztfamilie auf, die ihm eine hervorragende Ausbildung ermöglichte. Als 14-Jähriger begann er zu komponieren, seine musikalische Begabung ließ sich nicht übersehen, gleichwohl schien ein anderer Berufsweg vorgegeben: Er sollte Arzt werden wie sein Vater. 1821 kam er zum Medizinstudium nach Paris – und entdeckte dort seine Leidenschaft zur Oper. Vier Jahre später wurde er offiziell Student am Pariser Conservatoire. Er hatte sich endgültig für die Musik und ein freies Künstlerdasein entschieden, wobei er – um seinen Lebensunterhalt zu verdienen – auch als Bibliothekar und Essayist tätig war.
Von Anfang an strebte Berlioz nach einer anderen Art von Musik, die sich über die akademischen Standards hinwegsetzte, die am Conservatoire gelehrt wurden: freier in ihrer Form, gewagter in der Harmonik und betörend in ihren Klangfarben. Schon seine frühen Arbeiten zeugen von einem unkonventionellen Gestaltungswillen. Als seine Kantate La Mort de Cléopâtre, in der er auf eindrückliche Weise die letzten verzweifelten Momente der ägyptischen Königin vor ihrem Freitod schildert, nicht für den Rompreis angenommen wurde, protestierte Berlioz: »Ich hätte nie gedacht, ein Komponist müsse neue Ausdrucksmittel vermeiden, wenn er das Glück hat, dass sie ihm einfallen, und wenn sie in den Zusammenhang passen«. Seine großen Vorbilder waren die Symphonien Ludwig van Beethovens sowie die Opern Christoph Willibald Glucks, Giacomo Meyerbeers und Carl Maria von Webers.
Als begeisterter Theaterbesucher entdeckte er in Paris seine Liebe zu Shakespeare – und zu der Schauspielerin Harriet Smithson, die ihm zur Obzession wurde, ehe sie nach jahrelangem vergeblichem Werben in die Ehe mit ihm einwilligte. Als künstlerische Frucht dieser Leidenschaft entstand seine Symphonie fantastique, mit der er autobiografisch die Seelenschmerzen und Fantastereien dieser Liebe schildert und die Musikwelt mit diesem ungewöhnlichen Stück auf sich aufmerksam machte. Das Werk bescherte dem Komponisten einen großen Erfolg, nicht nur in Frankreich, auch in Deutschland. Es wurde dabei durchaus kontrovers diskutiert: Ein »monströser Klumpen von Noten« sei – so der Komponist François-Joseph Fétis – diese Symphonie. »Ein ganzer Beethoven steckt in diesem Franzosen«, urteilt dagegen der in Paris lebende Journalist Ludwig Börne.
Berlioz schuf mit Harold in Italien, Roméo et Juliette und La Damnation de Faust weitere symphonische Werke, die durch und durch dramatisch konzipiert waren und somit vorgegebene Gattungsschemata sprengten. Seine Art, wie er charakteristische Themen als sogenannte »idée fixe« immer wieder aufgreift und er sich dabei über tradierte Formen hinwegsetzt, ebnete den Weg für die Tondichtungen des späteren 19. Jahrhunderts und für Richard Wagners Leitmotivtechnik. Obwohl Berlioz ein musikalischer Geschichtenerzähler war, blieb ihm zu Lebzeiten der große Erfolg in der dramatischsten aller musikalischen Gattung, der Oper, versagt. Weder seine 1838 uraufgeführte Oper Benvenuto Cellini noch die 1858 vollendeten Les Troyens setzten sich durch.
Seine musikalischen Visionen scheiterten oft an Berlioz‘ eigener Maßlosigkeit und Realitätsferne. Während er als Komponist in seinem Heimatland zeitlebens höchst umstritten blieb, wurde er als Dirigent und Komponist auf seinen Konzertreisen nach Deutschland, Österreich, Russland, London, Prag und Budapest gefeiert. Berlioz, der 1869 vereinsamt und desillusioniert in Paris starb, galt als Klangzauberer, der die einzelnen Instrumente wirkungsvoll zur Geltung bringen konnte. Seine Erfahrungen und Erkenntnisse hielt er in einer bis heute gültigen Instrumentationslehre fest und wurde so zum Begründer des modernen Orchesterklangs.