Autor*in: Wolfgang Stähr
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Bild: Unsplash / Raphi Rawra

Als ihm 2005 der Ernst von Siemens Preisverliehen werden sollte, der »Nobelpreis für Musik«, da wunderten sich viele über das Auftauchen eines fast 90-jährigen Komponisten: Henri Dutilleux – einer der großen Tonschöpfer unserer Zeit, den es nie ins Rampenlicht des Kulturbetriebs gezogen und der unbeeinflusst von jedweder Schule seinen eigenen Stil kultiviert hat.

Als der französische Komponist Henri Dutilleux geboren wurde, herrschte in Deutschland noch Kaiser Wilhelm II.; als er starb, regierte hierzulande die Kanzlerin Angela Merkel. Fast 100 Jahre umfasste sein Leben, das er mit erstaunlicher Unbeirrbarkeit gegen alle politische Willkür und ästhetische Dogmatik verteidigte. Der Trotz des Einzelgängers zeichnete ihn ebenso aus wie ein Elefantengedächtnis, das man auch seiner Musik anmerkt. Ganz ähnlich, wie in einem raffiniert konstruierten Roman eine Figur prominent hervortreten kann, die 200 Seiten zuvor nur am Rande erwähnt wird, verbindet Dutilleux in seinem »magischen, letztlich unerklärlichen Kompositionsprozess« das Nächste mit dem Entlegensten, in einem weitgespannten Streckennetz der Ideen und Motive: die Wiederkehr des Unerwarteten.

»Pflicht zur Erinnerung«

Dutilleux kam am 22. Januar 1916 im Westen Frankreichs zur Welt, in Angers, als Kind einer französisch-polnischen Familie. Ein Urgroßvater war der mit Delacroix und Corot befreundete Maler Constant Dutilleux; der Großvater mütterlicherseits, der Organist Julien Koszul, leitete das Konservatorium von Roubaix. Die Geburt seines Enkels fiel mitten in die Zeit des Ersten Weltkriegs. Dutilleux führt es auf diesen Umstand zurück, dass er einer »Pflicht zur Erinnerung« verfolgt wurde wie von einer Obsession. Etwa wenn er ein Stück »Anne Frank und allen unschuldigen Kindern der Welt« widmet. Sein Vater kämpfte bei Verdun; später verbrachte Henri seine Kindheit in der von den Deutschen verwüsteten nordfranzösischen Stadt Douai.

Und noch als Student am Pariser Conservatoire konnte er dem Krieg nicht entkommen. 1938 wurde er mit dem »Premier Grand Prix de Rome« ausgezeichnet, dem höchsten akademischen Preis, den der französische Staat seinen Künstlern verleiht. Aber die Freude am Stipendium und dem Aufenthalt in der Ewigen Stadt hielt nicht lange an, weil Dutilleux zum Militär einberufen wurde und nach Frankreich zurückkehren musste. »Für mich war natürlich der Bruch, den der Zweite Weltkrieg brachte, von entscheidender Bedeutung«, bekannte Dutilleux. »Das Weltgeschehen hat mich zum Denken angehalten. Eine Weile habe ich ganz aufgehört, Musik zu schreiben. Ich versuchte mich selbst, meinen Stil zu finden.«

Die Berliner Philharmoniker auf der Bühne.
Die Berliner Philharmoniker spielen Henri Dutilleux' Erste Symphonie. | Bild: Monika Rittershaus

Der »erste Dutilleux«

Dutilleux hat seine frühen Arbeiten zwar nicht verschwiegen oder gar vernichtet. Dennoch beginnt sein offizielles Werkverzeichnis erst im Jahr 1948 mit der Klaviersonate. Aber als den »ersten Dutilleux« mit Anspruch auf Gültigkeit und Unverwechselbarkeit bezeichnete er ausdrücklich seine Symphonie Nr. 1: »Sie ist drei Jahre nach der Sonate entstanden, und ich hege zärtliche Gefühle für sie wie für ein Kind, das man nicht zurückweisen möchte.«

Anders als seine späteren, ungleich berühmteren Kompositionen, die er für das Cleveland Orchestra und George Szell, das Boston Symphony und Seiji Ozawa oder für Mstislaw Rostropowitsch, Isaac Stern und Anne-Sophie Mutter schrieb, schuf er diese Symphonie ohne Auftrag, seine »erste wichtige Partitur«, der Beginn einer »neuen Etappe«.

Zunächst einmal, in den 1950er-Jahren, wies sie ihm allerdings die Randexistenz eines Außenseiters zu: »Das ist oft eine unbequeme Haltung, doch man kann aus diesem Gefühl der Einsamkeit auch Kraft schöpfen.« Während die Symphonie bald in Deutschland aufgeführt wurde, dirigiert von Hans Rosbaud und Ferenc Fricsay, war Dutilleux noch, wie er sagte, »ein junger Musiker, der ›gegen den Strom‹ zu schwimmen schien, als die ersten elektroakustischen Versuche und auf der anderen Seite die Renaissance der Wiener Schule mit der Rückkehr bedeutender Werke von Komponisten, die lange Zeit aus den Programmen ausgeschlossen waren, die Aufmerksamkeit auf sich lenkten«.

Gegen den seriellen Strom

Diese vornehme Formulierung aus dem Abstand der Jahre verschleiert jedoch, wie sehr Dutilleux tatsächlich unter der Vorherrschaft und Meinungsmacht der Nachkriegsavantgarde zu leiden hatte, als die Zwölftontechnik und ihre Radikalisierung, die »Serielle Musik« (bei der die musikalischen Parameter von Zahlenreihen determiniert werden), zum Goldstandard der Moderne erhoben wurden.

Dutilleux fühlte sich vom »Clan der Serialisten« ausgeschlossen, er klagte über den »seriellen Terror«, über »eine richtiggehende Tyrannei und einen neuen Akademismus«. Diese Ausgrenzung brachte auch ganz alltägliche wirtschaftliche Nöte und Nachteile mit sich: Dutilleux konnte erst spät von seiner Kunst leben: »Bis ich 55 oder 60 Jahre alt war, blieb mir nichts anderes übrig, als mich durch eine nebenberufliche Tätigkeit über Wasser zu halten«.

Zeitlos modern

Auf den ersten Blick nimmt sich Dutilleux’ Symphonie von 1951 geradezu provozierend unzeitgemäß aus. Sie beginnt, wie die Vierte von Brahms endet, mit einer Passacaglia: mit Variationen über einen ostinaten (hartnäckig beibehaltenen) Bass von vier Takten, der 35 Mal wiederholt wird, bei fortlaufend verändertem Überbau. Aber diese strenge barocke Form des Komponierens über einem festen Grund, der die Musik aus der Tiefe lenkt und wie ein Schicksalsspruch beherrscht, war weder modern noch unmodern, sondern schlichtweg zeitlos.

Auch andere zeitgenössische Komponisten wie Benjamin Britten oder Dmitri Schostakowitsch hielten an der Passacaglia fest wie an einem Ritual oder einem heiligen Zwang, an dem sie ihre Freiheit schärfen konnten. Dutilleux schreibt in seiner Ersten Symphonie obendrein noch ein Finale »con variazioni« und zuvor ein »Intermezzo«, das die Richtung umkehrt und das Thema nicht zum Ausgang nimmt, sondern zum Ziel der Verwandlungen, Transformationen und Metamorphosen. Und wie zwischen den Kapiteln eines Romans bewegen sich auch in dieser Symphonie die Figuren und Motive von einem Satz zum anderen, sie kommen vor, tauchen ab und kehren wieder, wenn man sie am wenigsten erwartet.

Dunkle, extravagante Musik

Dutilleux erfindet eine dunkle, extravagante Musik für das opulent besetzte, um Xylofon, Vibrafon, Glockenspiel, Celesta und Klavier bereicherte Orchester, er bricht auf zu einer Fantasiereise durch unerhörte Klangräume und rätselhafte Träume, hinüber auf die andere, verborgene, die nächtliche Seite der Existenz. Und er entfacht eine buchstäblich atemberaubende Musik von unglaublicher Spannung und Dramatik, die Zeit vergeht wie im Flug, und es ist kein Wunder, dass diese Partitur auch zum Soundtrack für das Kino umgewidmet wurde.

Henri Dutilleux, der am 22. Mai 2013 in Paris starb, im Alter von 97 Jahren, fand mit seinen Werken erst spät und nur selten den Weg ins Repertoire der Berliner Philharmoniker. Aber als Simon Rattle 2003 die Correspondances uraufführte, Gedichte und Briefzitate von Rilke, Mukherjee, Solschenizyn und Van Gogh, die Dutilleux für Sopran und Orchester vertont hatte, entstand doch noch so etwas wie eine tiefe, nachsommerliche Freundschaft. Im Januar 2024 spielen die Philharmoniker mit ihrem Chefdirigenten Kirill Petrenko zum ersten Mal die Erste Symphonie, den »ersten Dutilleux«. Denn das Leben steckt voller Entdeckungen und ist fast so abwechslungsreich wie die Musik des genialen Franzosen.