Nachdem die Berliner Philharmoniker schon oft seine Werke aufgeführt haben, ist Jörg Widmann nun Composer in Residence für die Saison 2023/24. Darüber hinaus gastiert er am heutigen Abend erstmals als Dirigent und Klarinettist beim Orchester. In unserem Interview spricht er über die Risiken eines persönlichen Stils und den Glücksfall, mit einer Geigerin als Schwester aufzuwachsen.
Herr Widmann, Sie haben schon als Kind und Jugendlicher komponiert. Entdecken Sie sich in Ihren damaligen Werken wieder?
Ich erinnere mich an einen frühen Klavierwalzer in F-Dur. Die ersten zwei Takte waren wunderbar, was danach kam, nicht so sehr. Ich hatte damals weder Lust noch die Mittel, systematisch an einem Musikstück zu arbeiten. Was es in diesen ganz frühen Stücken allerdings schon gibt, ist die Lust an der Virtuosität und am Klang. Die prägt mich immer noch.
Was macht darüber hinaus Ihren Stil aus?
Wenn ein Komponist oder ein Maler ein Leben lang dasselbe macht, dann nennt man das irgendwann Stil. Das hat mich nie interessiert. Ich möchte mich nicht wiederholen, ich möchte nicht von mir selbst gelangweilt werden. Deshalb sind meine Stücke ästhetisch oft sehr unterschiedlich. Wer zum Beispiel mein Oktett und dann ein reines Geräuschstück hört, wird vielleicht gar nicht denken, dass das vom selben Komponisten stammt. Oft schreibe ich ganz gezielt nach der einen Komposition etwas ganz Gegensätzliches. Jemand, der von außen auf meine Musik schaut, wird wohl eine gewisse spezifische Harmonik entdecken. Mir selbst ist aber wichtig, dass ich mich immer erneuere.
Gibt es neben diesem Wunsch nach Erneuerung für Sie weitere künstlerische Leitlinien?
Es gibt ein für mich ganz wichtiges Buch von Ferruccio Busoni, den Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst. Als junger Mensch habe ich darin einen Satz gefunden, der für mich zu einer Art Credo wurde: »Frei ist die Tonkunst geboren und frei zu werden ihre Bestimmung.« Das hat mir aus der Seele gesprochen, dieses Aufbrechen des Regelhaften, des Akademischen. Mich interessieren Künstlerinnen und Künstler, die darüber hinausgehen, die die Überraschung suchen. Überraschung und Freiheit: Das sind Begriffe, die mein künstlerisches Denken prägen.
Wie haben Sie gemerkt, dass Komponist der richtige Beruf für Sie ist?
Das hat sich allmählich ergeben. Ich habe mit sieben Jahren angefangen Klarinette zu spielen und immer viel für mich fantasiert. Ärgerlich war, dass ich mich am nächsten Tag oft nicht erinnern konnte, was ich am Vortag improvisiert hatte. Ich musste also einen Weg finden, das aufzuschreiben, und habe meinen ersten Kompositionsunterricht genommen.
Sie hatten bereits als Schüler Unterricht bei dem berühmten Hans Werner Henze. Wie kam das?
Henze wollte mit unserem Gymnasium ein Schulprojekt für die Biennale in München machen, und bei der Suche nach einem Komponisten ist man auf mich gekommen. So habe ich als Elftklässler mein erstes Musiktheaterstück von eineinhalb Stunden geschrieben und wurde Henzes Schüler. Henze kam ja von der Oper, ihm war zum Beispiel Timing wichtig. Einmal fragte er mich, wie lange eine Figur auf der Bühne brauchte, um von A nach B zu kommen.« Ich hatte mir diese Frage überhaupt nicht gestellt und sagte unsicher: »20 Sekunden?« Und er antwortete wie aus der Pistole geschossen: »Kürzer!«
An der Hochschule für Musik in Karlsruhe hatten Sie dann mit Wolfgang Rihm einen weiteren bedeutenden Lehrer.
Mit Wolfgang Rihm hatte ich einen musikalischen Dialog. Wir haben uns gegenseitig mit Stücken geantwortet. Als ich bei ihm studierte, hat er für mich ein Klarinettenkonzert geschrieben, und ich habe mit meinem Cellokonzert geantwortet und Gegenfragen gestellt. Er hat dann über 20 Stücke für Klarinette für mich geschrieben, worauf ich ihm als Interpret wieder geantwortet habe. Aus diesem Dialog habe ich viel gelernt.
Sie sind Komponist, Klarinettist, Lehrer und außerdem noch Dirigent. Ist eine solche vierfache musikalische Identität nicht sehr anstrengend?
Nur wenn es um die Zeitplanung geht. Diese Tätigkeiten befruchten sich gegenseitig. Wenn ich als Klarinettist auf die Bühne gehe, gebe ich meine Komponistenidentität ja nicht an der Garderobe ab. Meine Musik hat etwas sehr Gestisches, und ich glaube, das hat sie auch dadurch, dass ich dirigiere und ein Instrument spiele, das mit Atem zu tun hat.
Die Berliner Philharmoniker führen Ihre Werke seit über zehn Jahren auf. Wie sehen Sie die Zusammenarbeit?
Ich würde so weit gehen, dass es fast eine Freundschaft zwischen uns gibt. Da die Berliner Philharmoniker schon so viele Stücke von mir gespielt haben, kennen sie meine Sprache. Ich merke jedes Mal, dass die Zusammenarbeit selbstverständlicher wird. Es ist ein Geschenk, wenn ich in der ersten Probe sitze und wenn die eigene Musik faszinierender und noch glühender klingt als erwartet.Ich habe dann einerseits einen wahnsinnigen Respekt vor dem Orchester und andererseits das Gefühl, alles sagen, mir alles wünschen zu können. Ich kann also die ersten Geigen bitten, einen noch höheren Schönklang zu spielen, auch wenn wir in einem Stratosphärenregister sind, wo andere Orchester schon längst abgewunken hätten.
Nun ist eine nächste Stufe der Partnerschaft erreicht: Sie sind Composer in Residence der Saison 2023/24 und geben mit eigenen Werken und Mendelssohns »Reformationssymphonie« Ihr Debüt als Dirigent des Orchesters. Wie ist es zu diesem Programm gekommen?
Ich wurde gebeten, für die erste Hälfte eigene Werke zusammenzustellen und für die zweite eine klassisch-romantische Symphonie vorzuschlagen. Mit Mendelssohns Symphonie habe ich mir ein Stück gewünscht, das mir viel bedeutet und nicht so oft gespielt wird. Mich fasziniert, wie hier zwei Herzen in Mendelssohns Brust schlagen: seine jüdische und seine christliche Identität. Das hat er nie so explizit und drastisch formuliert wie hier – mit dem für mich eindeutig jüdischen langsamen Satz, der im g-Moll der Celli und Bässe versinkt, und wie eine Fata Morgana erscheint dann das Finale mit dem christlichen Choral »Ein feste Burg ist unser Gott«. Man kann auf das Schönste sehen, dass Mendelssohn diese Identitäten nicht gegeneinander ausspielt, sondern beide mit seiner ganzen Liebe zeigt.
Was man außerdem in dieser Symphonie sieht, ist Mendelssohns Modernität. Er gilt in der Musikgeschichtsschreibung ja nicht gerade als Neuerer, aber das finde ich falsch. Er ist eben einer der feinsten und diskretesten Komponisten überhaupt. Man muss seine Brüche nur sehen wollen, etwa im ersten Satz dieser Symphonie. Der klingt sehr nach altem Stil, wofür Mendelssohn heftig kritisiert wurde, aber ich finde hier auch wahnsinnig viel Modernes.
Bei diesem Konzert steht außerdem Ihr Zweites Violinkonzert auf dem Programm. Geschrieben ist es für Ihre Schwester, die Geigerin Carolin Widmann. Inwiefern ist diese familiäre Bindung für Sie inspirierend?
Alles, was ich über Streichinstrumente weiß, habe ich von meiner Schwester gelernt. Sie hat im Nebenzimmer geübt, und ich habe ihr dazu Fragen gestellt. Etwa: »Was spielst du da für ein modernes Stück? Das klingt ja vollkommen abartig.« Das war aber gar nichts Modernes, sondern eine Caprice-Etüde von Eugène Ysaÿe, also von der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert. Meine Schwester hat mir gezeigt, wie man das spielt, und sagte: »Es klingt schwerer als es ist.« Dann habe ich selbst eine Etüde darüber geschrieben, die im Zweiten Violinkonzert zu einer Grundlage des Finales wurde.
So haben wir uns schon in unserer Jugend musikalisch ausgetauscht. Ich habe nachts komponiert und ihr zum Frühstück Zettel mit Fragen hingelegt: »Was passiert, wenn du die Geige umdrehst und mit höchstem Druck auf einer bestimmten Stelle spielst?« Dann kam ein Zettel mit einer Antwort, die meistens anfing mit: »Du bist verrückt!« Und dann erklärte sie mir, dass das, wonach ich gefragt hatte, nicht geht. Aber sie habe durch Probieren etwas anderes gefunden. Und so haben wir zusammen Klänge entwickelt, die es so noch nicht gab. Das spiegelt sich im ersten Satz des Zweiten Violinkonzerts wieder, der Una ricerca überschrieben ist, »Eine Suche«. Er ist eine Befragung nach den Möglichkeiten dieses wunderbaren Instruments.
Nach diesem Auftakt Ihrer Residency folgen weitere Aufführungen Ihrer Werke mit dem Orchester, einschließlich der Uraufführung eines Hornkonzerts, es gibt Kammermusik und eine Late Night. Was muss geschehen, damit Sie diese Zusammenarbeit am Ende als geglückt empfinden?
Das kann und sollte man nicht im Einzelnen planen. Schön wäre es, wenn ein Porträt meiner Musik entsteht, mit ihren vielen unterschiedlichen Bestandteilen und Ästhetiken. Aber ich denke nicht darüber nach, welche Wirkung wir am Ende erzielen. Ich freue mich auf jedes einzelne dieser Projekte und stürze mich mit Lust und Enthusiasmus hinein. Was dabei herauskommt, wissen wir nicht. Wie schön!