Mit seinen perfekt vorgeführten »power moves« und »freezes« heimste Jakub Józef Orliński bei diversen Breakdance-Wettbewerben Preise ein. Inzwischen widmet er sich vorwiegend einer anderen Kunst: dem Gesang. »Er könnte Student sein. Model. Oder Fitnesstrainer. Denkt man aber nur, bis der attraktive Kerl den Mund aufmacht«, bekannte Bild, und der Musikkritiker Klaus Kalchschmid schwärmt von der »engelshaft überirdisch schwebenden« Stimme des polnischen Sängers. Im November präsentiert er mit dem Ensemble Il pomo d’oro alte Meister des Barock.
Geboren wurde Jakub Józef Orliński 1990 in Warschau als Sohn einer Malerin und eines Grafikdesigners. Musik spielte in dieser Künstlerfamilie eine große Rolle und so spielte Orliński schon früh Klavier und sang im Kinderchor. Doch bevor er sich für eine Sängerkarriere entschied, machte er in der Hip-Hop-Szene als überragender Breakdancer von sich reden.
Mit 18 Jahren entdeckte er diesen ausdrucksstarken akrobatischen Tanz für sich, er trainiert seitdem regelmäßig und ist Mitglied des Warschauer Kollektivs Skill Fanatikz Crew. Sobald er sich wegen einer Opernproduktion etwas länger in einer Stadt aufhält, sucht er den Kontakt zur lokalen Breakdance-Szene und trainiert mit: »Die HipHop-Kultur ist sehr offen und Breakdance ist für mich eine Art Meditation.«
Wie hat der leidenschaftliche Breakdancer seine Liebe zur Barockmusik – und vor allem seine besonderen Qualitäten als Countertenor entdeckt? Bei dieser Frage atmet Jakub Józef Orliński tief aus und erzählt dann eine kuriose Geschichte: »Als ich noch im Kinderchor sang, changierte meine Stimme zwischen Sopran und Alt. Nach dem Stimmbruch war ich ein Bassbariton. Zusammen mit meinen Chorkollegen haben wir damals das Vokalensemble Gregorianum gegründet und uns zunächst auf die Musik des Mittelalters konzentriert. Dann kamen Renaissance-Stücke dazu und dafür brauchten wir fünf Stimmen, neben Bass, Bassbariton und Tenor noch zwei Diskant-Stimmen.
Doch diese hohen Stimmen wollte keiner von uns freiwillig übernehmen, also mussten wir Lose ziehen. Seltsamerweise fiel die Entscheidung auf die beiden Jüngsten im Ensemble, auf meinen Freund Piotr und mich. Ich bin sicher, dass diese Lotterie manipuliert wurde, aber was soll’s. So haben wir beide angefangen, Countertenor-Partien zu singen, ohne zu wissen, was eine Countertenor-Stimme eigentlich ist. Erst später, als wir an einem Workshop teilgenommen hatten, sagte jemand zu uns: ›Hey, Ihr seid ja Countertenöre!‹ Da wir den Begriff noch nicht kannten, dachten wir, man wollte uns beleidigen. Aber dann wurden wir aufgeklärt und begannen, selbst zu erforschen, wie das Countertenor-Singen funktioniert.«
Das hohe männliche Stimmfach Countertenor sei nichts Exotisches, sondern eine Frage der richtigen Gesangstechnik und des Timbres, meint Jakub Józef Orliński: »Ob ein Sänger als Countertenor geeignet ist, hängt wesentlich von der Klangfarbe seiner Stimme ab, denn die lässt sich durch keine Gesangstechnik verändern.« Seine eigene Stimme bezeichnet er als »Altus«. Orliński hat eine dunkle, warm timbrierte Stimme und legt großen Wert darauf, dass sie maskulin klingt. Die Grundlage dafür sei eine ausgeglichene Mittellage, »das ist genau das, worauf ich mich von Anfang an fokussiert habe, auf eine starke Mittellage, auf die ich sehr stolz bin.«
Sein Gesangsstudium absolvierte der Sänger an der Warschauer Musikuniversität. Doch der Anfang für ihn war steinig. Seine erste bittere Enttäuschung erlebte der damals 18-Jährige bereits bei der Aufnahmeprüfung, als die Jury ihn für das staatlich finanzierte Studium als ungeeignet einstufte. Diese Entscheidung wurde zwar später korrigiert, doch durfte Orliński zunächst nur ein teures, selbst finanziertes Studium antreten – eine enorme Herausforderung für ihn, zumal er damals sein Elternhaus bereits verlassen hatte. Er warb um Sponsorengelder, arbeitete nebenbei als Model für eine Bekleidungsfirma und hatte viele andere Jobs, um sich finanziell über Wasser zu halten.
An der Warschauer Musikuniversität studierte Jakub Józef Orliński in der Gesangsklasse der bekannten polnischen Mezzosopranistin Anna Radziejewska. »Dass sie an mich geglaubt hat, hat mir viel bedeutet, denn meine Anfänge waren alles andere als erfolgversprechend.«
Davon zeugen Tonaufnahmen, die der Sänger bei seinen ersten Semester-Prüfungen an der Warschauer Musikuniversität machte und die er selbst für miserabel hält: »Wenn ich einen schlechten Tag habe, höre ich mir diese alten Aufnahmen an und sage mir: ›Hey, Jakub, du hast inzwischen alle deine Erwartungen übertroffen, es ist alles gut.‹ Und gleich geht es mir besser.«
Für seine aktuellen CD-Aufnahmen wird er gefeiert und mit Preisen ausgezeichnet, insbesondere für seine Händel-Interpretationen. »Händel ist einfach der Beste! Was er einst für seine Sänger komponiert hat, passt ideal zu meiner Stimme und zu meiner Tessitura.«
Als stilistisch feinsinniger Händel-Interpret war Jakub Józef Orliński schon während seiner Gesangsausbildung in Warschau zu erleben. Mit diversen Händel-Rollen trat er auch seine Opernkarriere an, zuerst in der polnischen Heimat und später an den Theatern in Aachen, Gießen, Frankfurt, Zürich, Paris und bei den Festspielen in Glyndebourne und Avignon.
Mit dem Festival in Aix-en-Provence ist eine amüsante Geschichte verbunden, die den Countertenor über Nacht zu einem Medienstar machte. Im Sommer 2017, am Tag nach der Premiere von Francesco Cavallis Oper Erismena – mit Jakub Józef Orliński in der Rolle des Prinzen Orimeno –, wurde er kurzfristig zu einem Radio-Konzert von France Musique eingeladen, die Arie »Vedrò con mio diletto« aus Vivaldis Oper Giustino vorzutragen.
»Per SMS fragte ich noch die Veranstalter, ob ich mich für diesen Auftritt besonders schick anziehen sollte. Und die schrieben zurück: ›Nein, ist nicht nötig, ist ja nur ein Radio-Konzert.‹ Gut, dann bin ich eben ganz leger angezogen mit meinem Pianisten Alphonse Cemin zu diesem Radio-Konzert gefahren. Und dort stellte sich heraus, dass das Konzert unter freiem Himmel vor Publikum stattfindet und dazu gleichzeitig per Livestream in Bild und Ton auf Facebook übertragen wird. Natürlich war es zu spät, um ins Hotel zurückzufahren und sich umzuziehen. Außerdem war es an diesem Tag irrsinnig heiß, über 30 Grad im Schatten. Also traten wir beide in kurzen Hosen auf. Die Leute waren begeistert.«
Im Internet ist dieser Aufritt ein Hit, über 8 Millionen Mal wurde der Mitschnitt auf YouTube angeschaut. »Ich denke, ich war ganz einfach zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort«, schmunzelt Jakub Józef Orliński. »Glück gehabt. Wobei mein Coach und Mentor Eytan Pessen immer sagt, Glück müsse man sich verdienen. So gesehen habe ich auch etwas zu diesem Glück beigetragen.«
Auf Anraten von Eytan Pessen setzte Jakub Józef Orliński 2015 seine Gesangsausbildung an der New Yorker Juilliard School fort, zwei Jahre war er dort Schüler von Edith Wiens. Auch wenn Orliński in dieser Zeit den Internationalen Marcella-Sembrich-Gesangswettbewerb gewann und dann an zahlreichen weiteren Wettbewerben in aller Welt teilgenommen hat, hält er sie nicht für entscheidend, um seine Karriere voranzubringen. Für ihn waren Wettbewerbe stattdessen »eine gute Gelegenheit, neue Orte und viele interessante Menschen kennenzulernen.«
Im November 2021 war der Sänger dann in New York an der Metropolitan Opera zu hören, in einem zeitgenössischen Stück, als Orpheus-Doppelgänger in Eurydice von Matthew Aucoin. Es war sein Debüt an dem berühmten Opernhaus, von dem er bis dato noch nicht mal zu träumen gewagt hatte.
Überhaupt empfindet er seine Karriere als Geschenk. Vielleicht liegt das Geheimnis seines Erfolges gerade in dieser Unbeschwertheit, die er auch auf der Bühne ausstrahlt. Gesang ist seine große Leidenschaft. Er will ihr so lange wie möglich treu bleiben, bekennt Jakub Józef Orliński, wohl wissend, wie schnell selbst die schönsten Countertenor-Stimmen an Glanz und Kraft verlieren können. Angst davor hat er nicht: »Sollte ich spüren, dass es mit der Stimme bergab geht, werde ich sofort von der Bühne abtreten. Ich möchte nicht so ein älterer Countertenor werden, der seiner eigenen, verlorenen Stimmpracht hinterhersingt. Lieber ziehe ich mich rechtzeitig aus dem Musikgeschäft zurück, als dass mich das Musikgeschäft aussortiert.«
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