Zart, märchenhaft und ergreifend präsentiert sich Peter Tschaikowskys letzte Oper Jolanthe. Im Januar 2022 stand das Werk bei den Berliner Philharmonikern unter der Leitung von Chefdirigent Kirill Petrenko auf dem Programm.
Stellen Sie sich einmal vor, Sie wären von Geburt an blind, nichts sehen zu können wäre für Sie der Normalzustand. Wenn Ihnen keiner verriete, wozu andere ihre Augen gebrauchen, dann würden Sie wohl gar nicht auf die Idee kommen, dass Ihnen etwas fehlen könnte. Erst recht nicht, wenn Sie auch noch konsequent von der Außenwelt abgeschirmt würden und nur wenige Vertraute um sich hätten, die allesamt ein Lügengebäude errichten und Ihnen nicht verraten, was Sehen bedeutet.
Genau das ist der Plot von Peter Tschaikowskys letzter Oper Jolanthe. Er komponierte sie 1891, zwei Jahre vor seinem Tod.
Tschaikowsky hatte 1883 in der Zeitschrift Russki westnik das Drama König Renés Tochter des dänischen Dichters Henrik Hertz gelesen und war so auf die tragische Geschichte der blinden Jolanthe gestoßen. Ihr Schicksal bewegte den Komponisten sehr. Denn diese »Heldin« war ein Opfer, eine Außenseiterin, und Tschaikowsky kannte diese Situation – als Homosexueller – nur zu gut.
Auch die Scheinwelt, in der Jolanthe leben musste, kam ihm vertraut vor. Schließlich hatte er versucht, eine alternative »Wirklichkeit« zu erfinden, als er 1877 seine Studentin Antonina Miljukowa heiratete, um den bürgerlichen Vorstellungen zu genügen.
Ein fataler Schritt, der ihn nach wenigen Wochen in einen Selbstmordversuch trieb, und der nicht freiwillig geschah: Tschaikowsky sah sich nicht nur mit rigiden gesellschaftlichen Zwängen konfrontiert, er musste auch juristische Verfolgung fürchten, falls seine Neigungen bekannt geworden wären. Ihm hätte die Verbannung nach Sibirien gedroht, seine bürgerliche Existenz wäre vernichtet gewesen. Jolanthes Fall aber ist noch brisanter, denn sie wird von ihrem engsten Umfeld vorsätzlich betrogen und für dumm verkauft. Sie hat keine Wahl.
»Ich suche ein intimes, aber starkes Drama, das auf Konflikten beruht, die ich selber erfahren oder gesehen habe, die mich im Innersten berühren können«, so hatte Tschaikowsky seinen idealen Stoff für eine Oper einmal umrissen.
Mozarts Don Giovanni schien ihm das Maß aller Dinge zu sein, »die Krone der gesamten Opernliteratur«, wie er meinte. Aber auch Bizets Carmen konnte Tschaikowsky so einiges abgewinnen; er liebte die Volksszenen, den Stierkampf, und er fand im Verhängnis der beiden Hauptfiguren Carmen und Don José sein Lieblingsthema wieder, die Macht des bösen Schicksals.
Was allerdings sein Kollege Richard Wagner zu Papier brachte, wollte Tschaikowsky nicht überzeugen. 1876 hatte er bei den ersten Bayreuther Festspielen den Ring des Nibelungen erlebt. »All diese Wotane und Brünnhilden sind so unmöglich, so gar nicht menschlich, dass es einem schwerfällt, ihr Schicksal voll lebendiger Teilnahme zu verfolgen«, notierte Tschaikowsky nach der Vorstellung der Walküre. »Wie farblos und leblos wirken einige Szenen! Wotan hält der ungehorsamen Brünnhilde eine Strafpredigt von einer dreiviertel Stunde. Wie langweilig!«
Aber auch mit Wagners Antipoden Giuseppe Verdi mochte Tschaikowsky nicht warm werden. »Ich pfeife auf Effekte!«, ereiferte er sich mit Blick auf die Aida. »Die Gefühle einer ägyptischen Prinzessin, eines Pharaos oder irgendeines verrückten Mörders kenne ich nicht, verstehe ich nicht.«
Wie anders verhielt es sich doch mit der armen Jolanthe! Und auch mit den übrigen Figuren aus Henrik Hertz’ Drama. Zeitlos und zutiefst menschlich erschienen sie Tschaikowsky mit ihren inneren Konflikten, ungeachtet der Tatsache, dass die Handlung Mitte des 15. Jahrhunderts in Frankreich spielt.
Da wäre etwa Jolanthes Vater, der König René, der seiner Tochter so gerne helfen würde und deshalb sogar den maurischen Arzt Ibn-Hakia an seinen Hof holt. Denn der behauptet zu wissen, wie man Blinde zum Sehen bringt. René schreckt dann aber vor der »Therapie« zurück, weil Ibn-Hakia verlangt, dass Jolanthe zunächst offenbart werden müsse, was ihr fehlt. Das aber will der König seinem geliebten Kind nicht zumuten.
Unglücklich ist auch Herzog Robert von Burgund, dem Jolanthe zur Frau versprochen wurde, ohne dass er sie je zu Gesicht bekommen hätte. Da er sich aber in eine andere verliebt hat, beschließt er, bei König René vorstellig zu werden und ihn um die Auflösung des Verlöbnisses zu bitten. Bei dieser heiklen Mission lässt er sich von seinem Freund Graf Vaudémont begleiten.
Doch wie das Schicksal es will: Bevor die beiden zum König gelangen, treffen sie im Garten des Palasts auf Jolanthe. Vaudémont ist sofort von ihr verzaubert. Er spricht mit ihr und bemerkt natürlich schnell, dass sie blind ist, und anders als der verschworene Hofstaat hat er keine Hemmungen, sie direkt darauf anzusprechen. Als Vaudémont ihr erklärt, was Sehen heißt und was Licht bedeutet, erfährt Jolanthe zum ersten Mal, was sie von ihren Mitmenschen unterscheidet. König René ist außer sich, als er davon erfährt, und droht, Vaudémont töten zu lassen. Jolanthe aber hat ihn längst in ihr Herz geschlossen.
Je mehr sich Tschaikowsky in dieses verrückte Drama vertiefte, desto stärker faszinierte es ihn, und er trug sich schon bald mit dem Gedanken an eine Vertonung. Andererseits trieb ihn zur selben Zeit Alexander Puschkins Novelle Pique Dame um, und zunächst zog er dieses Projekt dann vor.
Erst im Frühjahr 1888 beauftragte er seinen Bruder Modest mit der Ausarbeitung des Librettos zu Jolanthe und bis er die Komposition aufnahm, vergingen abermals drei Jahre. Obwohl Tschaikowsky insgesamt zehn Opern schuf, zweifelte er immer wieder an seinem Talent als Musikdramatiker. »Die Tatsache, dass ich keine szenische Ader habe, ist längst anerkannt«, behauptete er einmal.
Kein Wunder, dass er seiner berühmtesten Oper, dem Eugen Onegin, von vornherein den relativierenden Untertitel »Lyrische Szenen« gab. Und auch Jolanthe kennzeichnete er mit demselben Attribut als »Lyrische Oper«, was bei einem solchen Drama wie ein Widerspruch in sich erscheint.
Jolanthe ist Tschaikowskys ungewöhnlichstes Bühnenwerk. Dass er bewusst alles vermied, was nach Opernkonvention aussehen mochte, zeigt sich schon in der formalen Anlage als Einakter. Nicht zuletzt deshalb wurde Jolanthe am 18. Dezember 1892 auch im »Doppelpack« mit dem Ballett Der Nussknacker uraufgeführt. Musikalisch allerdings sind es Welten, die beide Werke trennen.
Schon die Orchestereinleitung zu Jolanthe gehört zu Tschaikowskys eigenwilligsten Schöpfungen: Nur Holzbläser und Hörner gestalten dieses Vorspiel – die Streicher müssen schweigen. Die ewige Dunkelheit, in der Jolanthe lebt, wird hier zum Klang, und die absteigenden Melodielinien, die pochenden, herzschlagartigen Tonrepetitionen und die harmonischen Vorhalte, die an Wagners Tristan erinnern, zeigen, wie sehr es im Innern dieser Heldin brodelt.
Ohnehin ist Tschaikowsky dem geschmähten Wagner in dieser Oper näher, als man vermuten sollte. Die Gesangspartien legt er über weite Strecken deklamatorisch an, und auch die lautmalerischen Effekte haben ihr Vorbild beim Bayreuther Meister: etwa wenn König Renés Ankunft mit Hörner- und Trompetenschall zelebriert wird, wenn die Bratschen und Celli das Getrappel der Pferde nachahmen, auf denen Herzog Robert und Graf Vaudémont einreiten, oder wenn Ibn-Hakia sein Therapiekonzept mit orientalischen Melismen ausschmückt.
Andererseits ist Tschaikowsky in der Schlüsselszene des Werks, im großen Duett zwischen Vaudémont und Jolanthe, ganz bei sich selbst, wenn er mit grandiosem Melos in die Seele seiner Hauptfiguren leuchtet und die philosophische Frage nach der Erkenntnis stellt: Braucht es wirklich das Licht, um die Wahrheit zu begreifen, oder sieht man, wie Antoine de Saint-Exupéry es später formulieren sollte, »nur mit dem Herzen gut«?
Vor allem die Schlusspointe der Geschichte bot Tschaikowsky den besten Stoff für eine hinreißende musikalische Volte. Jolanthe erklärt sich zur Therapie bereit, wenn ihr Vater den Grafen Vaudémont leben lasse. Der wiederum hält beim König um Jolanthes Hand an. Nach der Behandlung durch Ibn-Hakia wird die Blinde tatsächlich sehend – und Tschaikowsky unterstreicht das Happy End mit dem kompletten Gegenstück zur Eröffnung: mit einem Finale in strahlendem C-Dur.
Bedenkt man die depressiven Neigungen, unter denen er selbst immer wieder litt, wirkt diese Schlusswendung wie ein surrealer Traum: Sie entwirft die Utopie einer Welt, in der die Liebe regiert, das Licht für alle leuchtet, die Lüge ausgedient hat und sich niemand vor der Strafe fürchten muss. So schön kann eigentlich nur ein Märchen sein. Oder die Oper.