So hat man die Berliner Philharmoniker und Herbert von Karajan noch nie erlebt: Eine neue Edition des Labels Berliner Philharmoniker Recordings macht erstmals zahlreiche Rundfunkmitschnitte der 1950er- und 60er-Jahre zugänglich. Wichtige Werke des Standardrepertoires von Mozart bis Sibelius, von Beethoven bis Ravel erklingen in Interpretationen, die von der besonderen Energie eines Live-Konzerts geprägt sind. In einem Essay für die hochwertig ausgestattete Edition gibt Journalist Peter Uehling weitere Hinweise, was diese Tondokumente so einzigartig macht. Hier ein Auszug.
Die neue Edition der Berliner Philharmoniker mit Konzertmitschnitten unter Herbert von Karajan aus den 1950er und -60er Jahren ist vieles zugleich: Der Hörer unternimmt eine Zeitreise zu den Konzertdramaturgien jener Zeit, inklusive einiger Werke, die damals neu waren, aber im Repertoire nicht überlebt haben. Man kann hören, wie Karajan auf der Suche ist nach einem Ausgleich seiner interpretatorischen Fantasie mit den Möglichkeiten des von ihm seit 1955 verantwortlich geleiteten und immer stärker geprägten Orchester. Außerdem erlebt man hier natürlich den Live-Dirigenten, der seine Musiker zuweilen freilässt, der andere, oft extremere Tempi wählt, Übergänge zuspitzt, unerwartete Akzente setzt.
Zunächst zu den Konzertdramaturgien: Man sollte unbedingt versuchen, die oft vollständig aufgenommenen Konzerte auch vollständig anzuhören. Das vorherrschende Schema Ouvertüre – Solokonzert – Symphonie ist bis heute nicht außer Kraft gesetzt, aber seit einem halben Jahrhundert hört man an der Stelle der Ouvertüre keine Musik von Bach und Händel mehr, wie man sie hier noch mehrfach entdeckt.
Dass Karajan beiden Komponisten nach heutigem Verständnis nur eingeschränkt gerecht wird, sichert den Aufnahmen immerhin den Status historischer Interessantheit: Die Abstammung seines Dirigierens aus der sogenannten »Neuen Sachlichkeit« schlägt gerade dort durch, wo sich sein interpretatorischer Ehrgeiz in Grenzen zu halten scheint: Während in diesen Jahren Nikolaus Harnoncourt die Barockmusik als »Klangrede« zum Sprechen bringt, bevorzugt Karajan eine eher mechanische Rhythmik und Dynamik.
Ähnlich ist es bei Mozart, wo ihm zwar Aufnahmen von großer Schönheit gelingen – wie etwa im Konzert für drei Klaviere, deren eines Karajan selbst spielt, oder in der von ihm besonders geliebten »Zweiten Lodronischen Nachtmusik« – aber auch solche, die dialogischen Witz oder rhetorische Prägnanz vermissen lassen, wie etwa in der Aufnahme der »Jupiter«-Symphonie.
Für die Geschichte des Musiklebens sind auch die vergänglichen Neuheiten des späteren Opernintendanten Rolf Liebermann und des als Filmkomponist erfolgreichen Richard Rodney Bennett interessant, die Karajan seinem Berliner Publikum vorgestellt hat: Musik, die nicht für die Schublade geschrieben wurde, aber wieder in sie hineingewandert ist – hier kann man sich seine Gedanken machen, warum das wohl so war; und auch, warum die Repertoireauslese bei György Ligetis »Atmosphères«, das Karajan mit großer Sensibilität für die polyphone Anlage dirigiert, glücklicher verlief.
Zuweilen hat Karajan seine Programme auch ganz gegen das Schema gebaut, am spektakulärsten vielleicht, als er Johannes Brahms’ Vierte Symphonie vor seine liebsten Werke von Claude Debussy und Maurice Ravel setzte: Also ein sehr deutsches, nachdrücklich gebautes und betont geistiges Stück gegen zwei sehr französische, fließende und sinnliche Stücke. Im Kontrast kann man da noch heute etwas über die »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« lernen: Zwischen der Uraufführung von Brahms’ Vierter und dem Kompositionsbeginn von Debussys »Prélude à l’après-midi d’un faune« liegen gerade einmal sechs Jahre.
Hört man tiefer in die Aufnahmen hinein, vielleicht sogar mit dem Eindruck der Schallplatten-Produktionen im Hinterkopf, bemerkt man schnell, wie Karajan und das Orchester miteinander wachsen. Am deutlichsten wird das am Vergleich der beiden »Eroica«-Aufnahmen von 1953 und 1969. In der früheren Aufnahme hat Karajan noch das von Wilhelm Furtwängler geprägte, aber in diesen seinen letzten Jahren kaum noch geformte Orchester vor sich.
Man spürt Karajans Willen, der vielleicht nicht unbedingt auf den Widerstand des Orchesters, aber doch auf dessen ganz andere musikalische Ausrichtung stößt, unter deren Bedingungen es Karajans Impulse nicht vollständig umsetzen kann: Die Interpretation wirkt unrund und auch im Zusammenspiel ziemlich unscharf. Zehn Jahre später war die »Eroica« in der Gesamtaufnahme der Beethoven-Symphonien gewissermaßen »gültig« produziert, und die dort festgehaltene Interpretation konnte Karajan 1969 im Live-Konzert virtuos und mit genau jenen so charakteristisch ausgehörten, zauberhaften Bläsermischungen abrufen.
Blieben Karajans Vorstellungen von Beethovens Symphonik über Jahrzehnte ziemlich stabil, so gibt es andere Stücke, in denen der Dirigent auf dem Weg ist. Die Fünfte Symphonie von Jean Sibelius etwa, die er in seinem einzigen Konzert mit dem damals 24-jährigen Pianisten Glenn Gould aufführte und die daraufhin Goulds Lieblingssymphonie wurde, klingt hier drängender und orchestral ruppiger als in den späteren Aufnahmen.
Auch die Unterschiede zwischen der 1974 entstandenen, preisgekrönten Aufnahme der »Variationen« op. 31 von Arnold Schönberg und dem hier präsentierten Konzertmitschnitt von 1969, seiner zweiten Aufführung des Werks, sind enorm. Wirkt der Klang der später produzierten Aufnahme nostalgisch verhangen, wozu das starke, beinah romantische Rubato der Solisten gut passt, so klingt der Mitschnitt bei strafferen und zugespitzteren Tempi kämpferischer und aggressiver – Karajan versteht das Stück hier noch expressionistisch, während er es 1974 schon aus der Sicht der gleichzeitig entstehenden Mahler-Aufnahmen betrachtet.
Trailer: Karajan-Edition
Schließlich begegnet man in den Mitschnitten interpretatorischen Extremwerten, die Karajan auf Studio-Aufnahmen eher vermeidet. Seine Ästhetik strebte nach einem eigenen Kunstrang der Aufnahme, einer gleichsam »objektiven« Ausgewogenheit, die sich mit der Spontaneität eines extremen Ausdrucks schwer vertrug. Hier dagegen kann man verschiedentlich Entdeckungen eines enormen Espressivos machen.
Erschütternd etwa das Fortissimo, mit dem im Andante von Peter Tschaikowsky Fünfter Symphonie das Schicksals-Thema einsetzt. Wunderbar aber auch die Freiheiten, die sich Karajan an Übergangsstellen erlaubt, wenn er Harmonien und Klängen nachlauscht wie etwa vor dem großen Flöten-Solo in Ravels »2ème Suite de Daphnis et Chloé«.
Als Karajan 1955 Chefdirigent des damals noch »Berliner Philharmonisches Orchester« genannten Ensembles wurde, kündigte er eine »Aufbauzeit von mindestens zehn Jahren« an – sowas klingt heute, in der Zeit der auf fünf Jahre abgeschlossenen Verträge und immer ungeduldigerer Entwicklungserwartungen, wie eine Märchenfabel. Falls Karajan nicht nur deswegen von zehn Jahren gesprochen hat, um seinen auf Lebenszeit geschlossenen Vertrag zu rechtfertigen, fragt man sich, was Karajan genau als Arbeitsziel vorschwebte.
Hört man die Studio-Aufnahmen der Beethoven- oder die Sibelius-Symphonien aus der ersten Hälfte der Sechzigerjahre, würde man annehmen, dass sich Dirigent und Orchester schon wesentlich früher reibungslos verstanden haben. Aber das sind auch die kosmetischen Wirkungen von Schnitt und Mischung. Wie sich Orchester und Dirigent immer tiefer aufeinander einlassen und miteinander verwachsen, das ist erst anhand dieser gleichsam rohen Mitschnitte zu ermessen und mit Spannung zu verfolgen.
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