Autor*in: Frederik Hanssen
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Klaus Mäkelä ist keine 30 Jahre alt und bereits an der Weltspitze angekommen. Aktuell leitet er das Orchestre de Paris sowie das Oslo Philharmonic Orchestra und ist designierter Chefdirigent des Amsterdamer Concertgebouworkest und des Chicago Symphony Orchestra. Nach seinem erfolgreichen Debüt im Frühjahr 2023 haben die Berliner Philharmoniker den Finnen erneut eingeladen. Ein Porträt.

Gerade hat sich Micaëla in die Kulissen geflüchtet, nach dem unangenehmen Gespräch mit dem übergriffig flirtenden Moralès, jetzt lümmeln die Soldaten wieder gelangweilt vor ihrer Wache und lästern über das »seltsame Volk«, das sich auf der Plaza herumtreibt. Da –endlich! – kündigen zwei Querflöten und eine Trompete die Ablösung an, zusammen mit Don José und seiner Kompanie versammeln sich die Gassenjungen, um das zackige Gebaren der Uniformierten zu imitieren. »Avec la garde montante, nous arrivons, nous voilà!«, schmettern die Kinderstimmen, in antrainiertem Französisch, weil diese Carmen-Aufführung in Helsinki stattfindet.

Zur quirligen Truppe der singenden Jungs gehört auch der siebenjährige Klaus Mäkelä. Er fühlt sich wie verzaubert, im Kostüm, geschminkt und von unzähligen Scheinwerfern angestrahlt. Ein Wirbel aus Klang, Bewegung und Licht umfängt ihn, er spürt die Magie des Gesamtkunstwerks Oper. Und während er mit den anderen über die Szene marschiert, wie in Trance, fragt er sich, wer in dieser Wunderwelt wohl das Oberkommando innehat? Bald hat er den Chef ausgemacht, direkt vor ihm, im Orchestergraben. »Ich war komplett überwältigt von der Kraft der Musik«, erzählt der inzwischen 27-Jährige beim Interview im Amsterdamer Concertgebouw. »Das wollte ich auch können! Fünf Jahre lang träumte ich davon, Dirigent zu werden – bis ich endlich zur Aufnahmeprüfung für die Klasse von Jorma Panula zugelassen wurde.«

Früh begonnen

In einem Alter, in dem andere Kinder darauf brennen, nach der Schule möglichst schnell auf den Bolzplatz flitzen zu können oder an der heimischen Playstation zu zocken, begann sich Klaus Mäkelä systematisch auf einen der herausforderndsten Künstlerberufe vorzubereiten, auf einen Job, der nicht nur höchste musikalische Kompetenz erfordert, sondern ebenso sehr auch die Qualitäten eines Topmanagers und das Gespür eines Psychologen.

»Die Leute könnten sagen, mit 12 Jahren sei das musikalische Gehirn noch unterentwickelt«, räumt Mäkelä ein. »Aber wenn du in jungen Jahren anfängst, wird Dirigieren etwas ganz Natürliches, Selbstverständliches für dich.« Vor allem, wenn man Jorma Panula als Lehrmeister hatte. Der 1930 geborene Finne ist eine Legende als Maestro-Macher, er hat ganze Generationen von Kapellmeistern geprägt – und er interessierte sich mit zunehmendem Alter immer mehr für die ganz jungen Hochbegabten.

»Jede Woche standen wir vor einem kleinen Orchester«, berichtet Klaus Mäkelä. Normalerweise üben angehende Kapellmeister erst jahrelang auf dem Halbtrockenen, indem sie zwei Pianisten dirigieren, die vierhändige Klavierauszüge von symphonischen Partituren spielen. Dank seines Renommees aber konnte Jorma Panula seinen Schützlingen an der Sibelius Akademie in Helsinki bereits reale Ausbildungsbedingungen bieten.

Mit 15 Jahren Aushilfscellist

Durch die kontinuierliche Arbeit mit dem Orchester hätten er und seine Kommilitonen ganz schnell gelernt, »dass du immer derselbe Mensch sein musst, dieselbe Persönlichkeit, egal ob du gerade auf der Bühne stehst oder nicht«, fährt Mäkelä in seinem Bericht fort. »Wenn du versuchst, mit dem Taktstock jemand anderes zu sein, wenn du in eine Rolle schlüpfst, funktioniert das nicht. Autorität lässt sich nicht durch Äußerliches herstellen. Du wirst dann niemals komplett überzeugend sein.«

Der finnische Shootingstar ist dankbar, dass er von Kindesbeinen an in den Beruf hineinwachsen durfte. »Ich konnte es einfach machen, ohne groß darüber nachzudenken. Würde ich erst in meinem jetzigen Alter mit dem Dirigieren anfangen, würde ich mir tausend Fragen stellen: Wie soll ich kommunizieren? Was denkt das Orchester, wenn ich dies oder jenes tue?«

Klaus Mäkelä hatte Glück. Denn sein Talent wurde früh erkannt und gefördert. Beide Eltern sind Profimusiker, der Vater Cellist, die Mutter Pianistin. »Wenn ich Hilfe benötigte, konnte ich sie immer fragen. So konnte ich mich selbst entwickeln, ohne Druck.« Und zwar gleich auf mehreren Ebenen, im Kinderchor der Oper, wo er seinen Traumberuf entdeckte, aber auch als Instrumentalist. Klaus wählte das Cello, er lernte schnell und war mit 15 Jahren schon so professionell, dass er als Aushilfe beim Helsinki Philharmonic engagiert wurde.

»Das war meine zweite Dirigentenausbildung«, sagt Mäkelä, »aus der Musikerperspektive habe ich sehr viel gelernt.« Wobei die Begegnungen mit den schlechten Dirigenten ebenso aufschlussreich waren wie die mit den guten: »Die guten schaffen es, dass alle im positiven Sinne aufgeregt sind beim Musizieren. In der nächsten Woche kommt dann jemand anderes, und dieselben Leute sind unmotiviert, schauen auf die Uhr während der Probe.«

Kaum ist Klaus Mäkelä volljährig, gibt ihm das Helsinki Philharmonic auch die erste Chance, als Dirigent vor Publikum aufzutreten. Danach geht alles ganz schnell. Im Mai 2018 kann er beim Oslo Philharmonic Orchestra debütieren, bereits im Oktober bieten die Musikerinnen und Musiker aus der norwegischen Hauptstadt ihm die Chefposition an. Der zunächst auf vier Jahre angelegte Vertrag wird schon vor Beginn der Amtszeit 2020 auf sieben Jahre verlängert.

Denn mittlerweile ist auch das Orchestre de Paris an den Finnen herangetreten, will ihn ab 2022 verpflichten – und zieht dann den Start auf 2021 vor. Als nächstes holt die Decca Klaus Mäkelä an Bord – als Exklusivkünstler des Labels, was bei einem Dirigenten zuletzt 1978 der Fall war. Als erste Veröffentlichung erscheint dann gleich eine Box mit sämtlichen Sibelius-Symphonien, eingespielt mit dem Oslo Philharmonic.

Ein Trio an Leitungspositionen

Im August 2022 gibt das Amsterdamer Concertgebouworkest bekannt, dass es den fantastischen Finnen zu seinem künstlerischen Leiter machen will. In einem absolut ungewöhnlichen Zehn-Jahres-Vertrag wurde dabei festgelegt, dass Mäkelä zunächst als „künstlerischer Partner“ des Spitzenensembles fungiert, bevor er zum Herbst 2027 dann die Chefposition übernimmt.

Zeitgleich wird er dann auch noch einen weiteren Top-Job antreten, nämlich als music director des Chicago Symphony Orchestra. Bis zu dem sensationellen Doppelwechsel, das betont der weltweit umworbene Shootingstar, will er weiterhin gewissenhaft seinen Verpflichtungen in Oslo und Paris nachkommen. 

Während sich die Musikwelt noch verblüfft die Augen reibt über diesen Wunderknaben, scheint er selbst am wenigsten erstaunt darüber, bereits an der Weltspitze angekommen zu sein. Listig verweist er darauf, dass einer seiner Vorgänger im Concertgebouw bei Amtsantritt sogar erst 24 Jahre alt gewesen sei, nämlich Willem Mengelberg. Das stimmt zwar, doch 1895 war das Orchester noch ein No-Name, das gerade seinen Gründungschef verloren hatte, nach Schottland, wo mehr Geld zu verdienen war. Erst nach der sagenhaften 50 Jahre währenden Ära Mengelberg wurden die Niederländer zu Global Playern.

Heutzutage trennen sich Orchester und Dirigenten viel zu schnell, findet Mäkelä. »Wer wirklich Veränderungen bewirken will, muss länger bleiben. Die Berliner Philharmoniker sind da ein gutes Beispiel. Herbert von Karajan hätte diesen ganz spezifischen Klang nicht innerhalb von zehn Jahren kreieren können.« Lange Amtszeiten stellen in seinen Augen eine Win-win-Situation dar. »Man lernt die Leute besser kennen, muss weniger sprechen in den Proben, versteht sich schneller. Das spart eine Menge Zeit und gibt uns die Möglichkeit, wirklich Musik zu machen.« Darum habe er sich entschieden, mit drei Orchestern sehr intensiv zu arbeiten, statt um die Welt zu jetten und Woche für Woche vor neuen Musikern zu stehen.

Wie lang aber ist zu lang in einer musikalischen Lebensabschnittspartnerschaft? »Nach 20 Jahren sollte man die Beziehung zum Orchester auf jeden Fall evaluieren«, sagt Mäkelä. »Um sich die Frage zu stellen: Wieviel kann ich dem Orchester noch geben?« Denn Dirigenten seien nun einmal gleichzeitig Traditionspfleger und Entwickler. »Wir tragen Verantwortung für unsere Orchester, müssen sicherstellen, dass sie glücklich sind, dass sie vorankommen. Wenn ich ihnen aber nichts mehr beibringen kann, dann ist es Zeit zu gehen.« Genauso wie Eltern ihre Kinder ziehen lassen müssten, wenn sie erwachsen geworden sind.

In Deutschland hat Klaus Mäkelä bisher vor allem mit Rundfunkorchestern zusammengearbeitet. »Eines der ersten Engagements war in Frankfurt. Wir verstanden uns sofort, ein tolles Orchester, sehr ernsthaft, großartige Holzbläser«, erinnert er sich. Dann kamen die NDR Radiophilharmonie Hannover, später auch das NDR Elbphilharmonie Orchester in Hamburg. »Besonders gut hat es mir auch in Bamberg gefallen, denn man spürte die enge Verbundenheit der Leute mit ihrem Orchester«, schwärmt er. Für 2020 war ein Auftritt mit dem Deutschen Symphonie-Orchester Berlin geplant – das dann aber der Pandemie zum Opfer fiel.

Sein Debüt in der deutschen Hauptstadt gab Klaus Mäkelä darum erst im Herbst 2022, bei einem Gastspiel mit seinen Amsterdamern im Rahmen des „Musikfest Berlin“. Im April 2023 schließlich folgte die Premiere des Finnen bei den Berliner Philharmonikern. 

Debüt in Berlin

Für seinen Einstand bei den Berliner Philharmonikern hat Mäkelä nicht etwa eine Symphonie seines Landsmannes vorgeschlagen, sondern eine russische Kombination. Die sechste Symphonie von Schostakowitsch sowie Tschaikowskys Pathétique. Nach diesem erfolgreichen Debüt vereinbarte das Orchester mit dem Dirigenten gleich das nächste gemeinsame Programm: Ende Mai 2025 wollen die Philharmoniker und Klaus Mäkelä die Alpensinfonie von Richard Strauss aufführen. Das zweite Stück des Abends wird dann Wolfgang Rihms Transitus III sein, eines der letzten vollendeten Werke des im Juli verstorbenen Komponisten, das einen ebenso großen Orchesterapparat nutzt wie Strauss. 

Dessen Alpensinfonie gehört zu den Paradestücken aller bedeutenden Orchester. Dennoch scheint Klaus Mäkelä, zu dessen Alltag es gehört, einen künstlerischen Gipfel nach dem anderen zu erklimmen, keinerlei Angst davor zu haben, dass im Saal viele Klassikliebhaber sitzen werden, die gleich mehrere Vergleichsinterpretationen anderer Interpreten im Kopf haben.