Ursprünglich sollte dieser Text die Überschrift tragen: »Wo und wie Komponist*innen Urlaub machten«. Das Wort Urlaub entstammt dem mittelhochdeutschen »Urloup«, hochdeutsch »Erlaubnis«. Gemeint ist die »Erlaubnis« zum Fernbleiben der Arbeitsstelle, also laut Duden die »dienst-, arbeitsfreie Zeit, die jemand [zum Zwecke der Erholung] erhält«. Nimmt man diese Definition als Ausgangspunkt unserer Fragestellung, wäre dieser Text mit drei Worten zu beenden: eigentlich gar nicht. Denn viele Komponist*innen entflohen der tagtäglichen Routine ganz bewusst, um in Ruhe zu arbeiten, suchten in der Zerstreuung ihre Inspiration oder hatten zumindest heimlich doch ein kleines Skizzenheft dabei. Die Arbeit, der es ja per definitionem fernzubleiben gälte, war also immer Teil des Reisegepäcks. Aber wir wollen mal nicht so sein und die Urlaubsdefinition etwas weiter fassen als »längerfristigen Verbleib abseits des heimischen Alltags« und die Ausgangsfrage entsprechend anpassen: Wo und wie verbrachten Komponist*innen den Sommer – eine Rundreise.
Wir starten in Berlin 1829, wo der 20-jährige Felix Mendelssohn gerade seine Koffer packt. Jung, wissbegierig, abenteuerlustig – es geht auf Bildungsreise. Seinem Freund Karl Klingemann schreibt er: »Nächsten August reise ich nach Schottland mit einer Harke für Volksmelodien, einem Ohr für die schönen duftigen Gegenden, und einem Herz für die nackten Beine der Bewohner.« Dort angekommen, wirken sich die kulturellen und landschaftlichen Einflüsse gleich auf das kreative Schaffen aus. Einen Zwischenhalt in Edinburgh nutzt er, um den Eltern seine Eindrücke zu schildern: »Ich glaube, ich habe heute da den Anfang meiner Schottischen Symphonie gefunden.« Höhepunkt der dreiwöchigen Reise ist eine Fahrt zu den Hebriden, jene sagenumwobene Inselgruppe westlich des Festlands. Irgendwo auf der Insel Staffa muss Mendelssohn nach dem Besuch der Fingalshöhle ein windstilles Plätzchen gefunden haben, um die 21-taktige Skizze seiner Hebriden-Ouvertüre zu notieren und »zu verdeutlichen, wie seltsam mir auf den Hebriden zu Muthe geworden ist.«
Die Stille einer Höhle, die Abgeschiedenheit der Berge – diese Atmosphäre hätte wohl auch Gustav Mahler sehr behagt. Sogar in einem abgeschiedenen Gasthof ist es ihm zu laut. Drum lässt er sich ein eigenes Komponierhäuschen am Wörthersee bauen, das seine Frau Alma so beschreibt: »Es war nichts anderes als ein großes gemauertes Zimmer.« In der Ecke ein Flügel, auf den Regalen Goethe, Kant und Bach – fertig. In diesem ruhigen Naturidyll arbeitet Mahler an den Symphonien Nr. 5 bis 8. Von 1900 bis 1907 verbringt der Komponist seine Sommer am Wörthersee – bis hier die vierjährige Tochter Maria Anna der Diphtherie erliegt. Eine Rückkehr wird unmöglich, Mahler wird ein neues Häuschen in Südtirol beziehen. Wir hingegen werden gleich noch einmal an den Wörthersee zurückkehren. Zuvor aber überqueren wir die Alpen gen Norden.
Hier begegnen wir Richard Strauss, der auf den Gipfel des Heimgartens blickt, den er im Alter von 15 Jahren im August 1879 bei einer »großen Bergpartie« erklomm: »Nachts 2 Uhr fuhren wir auf einem Leiterwagen nach dem Dorfe, welches am Fuße des Berges liegt. Sodan stiegen wir bei Laternenschein in stockfinsterer Nacht auf und kamen nach 5stündigem Marsche am Gipfel an. Dort hat man eine herrliche Aussicht. […] Sodan fuhren wir über den See nach Uhrfelden. […] Schon auf dem Weg daher hatte uns ein furchtbarer Sturm überfallen, der Bäume entwurzelte und uns Steine ins Gesicht warf.« Was für ein Abenteuer! »Am nächsten Tage habe ich die ganze Partie auf dem Klavier dargestellt. Natürlich riesige Tonmalereien u. Schmarrn (nach Wagner)«. Den Gedanken, diese Bergtour in einer Symphonie festzuhalten, sollte er noch 35 Jahre mit sich herumtragen, bis die Musik schließlich aus ihm herausfloss, »wie die Kuh Milch gibt«. Das Ergebnis: die Alpensinfonie.
Zurück am Wörthersee treffen wir Johannes Brahms auf der Durchreise von Italien nach Wien. Anders als der junge Mendelssohn oder Strauss bevorzugt der schon etwas gesetzte Brahms ein stetes Leben: von Herbstanfang bis Weihnachten in Wien, anschließend reisen, häufig mit Konzerten. Auf dem Rückweg einer dieser Reisen entdeckt er zufällig sein neues Lieblingsdomizil für die nächsten Jahre: »Pörtschach am See heißt unser Ort […]. Hier ist es allerliebst, See, Wald, darüber blauer Bergebogen, schimmerndes Weiß im reinen Schnee, Krebse gibt es massenhaft.« Drei Sommer, zwischen 1877 und 1879, wird er sich hier einrichten, denn wie jedes Jahr heißt es: Urlaub, um zu komponieren.
Was nicht fehlen darf? Der geregelte Tagesablauf: Selbstgemachtes Frühstück mit starkem Kaffee zwischen 4 und 5 Uhr. Anschließend in den See und eine Runde durch Berg und Tal, wo »die Melodien fliegen, daß man [sich] hüten muß, keine zu treten.« Die gilt es schnell zu Papier zu bringen, damit ja nichts verlorengeht. Am Nachmittag geht es zum Stammtisch im Weißen Rössl, abends heißt es Entspannung mit Freunden bei Kärntnerischer Volksmusik. Als er nach einem Sommer die Zweite Symphonie mit nach Wien bringt, ist sein Freund Theodor Billroth außer sich vor Begeisterung: »Das ist ja lauter blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler, grüner Schatten. Am Wörther See muß es doch schön sein.«
Und wo Johannes Brahms ist, ist Clara Schumann lange Zeit nicht weit, auch im Urlaub – zum Beispiel im Sommer 1855 auf Wanderschaft am Mittelrhein. Hier, unweit des Romantiker-Hotspots der Loreley, fühlt Clara Schumann sich wohl: »Die Fahrt durchs Rheintal ward sehr genossen […], weniger aber die Badegesellschaft, vor der Brahms am folgenden Tage Reißaus nahm,« schildert der Schumann-Biograf Berthold Litzmann später. Doch auch sie kann die Arbeit nicht zu Hause lassen. Im nahegelegenen Bad Ems wird noch schnell ein Konzert mit der »schwedischen Nachtigall« Jenny Lind gegeben. Als Vollblutkünstlerin nimmt Clara Schumann in ihrer Stückauswahl keine Rücksicht auf die Geschmäcker der Kurgesellschaft – allen Vorwarnungen zum Trotz.
Die Enttäuschung folgt auf dem Fuß: »Wie fühlte ich mich entwürdigt vor solchem Publikum, das keines meiner Stücke begriff, sich auch gar nicht die Mühe nahm, sondern nur immer auf die Lind wartete. Ich kämpfte schwer mit meinen Tränen[.]« Die Urlaubslaune scheint dahin, aber immerhin die Reisekasse ist nun gut gefüllt. Und gewandert wird schließlich auch noch: Brahms nimmt »sein Ränzel auf den Rücken, mit all dem, was wir brauchten« und gibt sich große Mühe, »den Führer und Reisemarschall abzugeben«. Die Eindrücke dieser Ausflüge an den Rhein lässt Clara Schumann in die Vertonung von Heines Gedicht Die Loreley einfließen: »Die Luft ist kühl und es dunkelt, / Und ruhig fließt der Rhein; / Der Gipfel des Berges funkelt / Im Abendsonnenschein.«
Gut, dass Clara Schumann in Brahms so eine angenehme Reisebegleitung gefunden hat. Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein war es nämlich unüblich, wenn nicht verpönt, dass Frauen allein auf Reisen gingen. Ethel Smyth gibt nicht so viel auf diese althergebrachten Gepflogenheiten. Sommerzeit hin oder her: Im Winter 1913 braucht sie dringend Ruhe und Erholung, als sie ihre – wie sie selbst sagt – »Flucht nach Ägypten antritt«. Flucht wovor? Vor den aufreibenden Kämpfen um die Stärkung der Frauenrechte, an denen sie sich als Mitglied der Women’s Social and Political Union in den vergangenen zwei Jahren in Großbritannien beteiligt hat.
Ein Bekannter, ranghoher Beamter in Ägypten, empfiehlt ihr eine Verschnaufpause in Helouan. Smyth ist begeistert: »Als ich erfuhr, dass ganz in der Nähe ein Wüstengolfplatz lag, buchte ich sofort meine Zimmer.« Und ihr Bekannter versorgt sie auch gleich mit der passenden Reisebegleitung, »Tennis-, Golf- und Bücherfreunde und weit und breit keine musikalischen Langweiler, dafür aber überall Kamele mit Begleitpersonal.« Beim Golfspiel gelingt es ihr sogar, einen »wichtigtuerischen Schotten, Generaldirektor von irgendwas, das ich nie herausfand«, zum Frauenrechtler zu bekehren. Ihr spannendstes Abenteuer ist der Besuch eins Kamelbasars: Ein Ritt durch die Wüste, Gazellensuppe, Kampieren im Freien. Doch auch Ethel Smyth kann nicht ohne die Arbeit; in Ägypten entstehen große Teile ihrer Oper The Boatswain’s Mate.
Felix Mendelssohn als Reisender
Mendelssohn ging mit Anfang zwanzig auf eine dreijährige Bildungsreise und brachte viel Inspiration für seine späteren Werke mit.
Richard Strauss’ »Eine Alpensinfonie«
Werkeinführung in ein monumentales Werk. Riesige Dimensionen hat die Alpensinfonie, die zwischen 1911 und 1915 entstand, in der Tat.
Die Jahrhundertfrau
Clara Schumann ist heute vor allem als Ehefrau des Komponisten Robert Schumann bekannt. Doch zu ihrer Zeit stand sie selbst im Rampenlicht.