Sie hätten unterschiedlicher nicht sein können: er, Sohn eines jüdischen Kantors aus Dessau, aufgewachsen in behüteten Verhältnissen, Schüler des berühmten Ferruccio Busoni, hochbegabt und sich seiner Genialität durchaus bewusst; sie, Tochter einer Waschfrau und eines Fiakerkutschers aus Wien, ein verwahrlostes Mädchen, das vom alkoholkranken Vater geschlagen wurde, keine Schule besuchte und zeitweise auf den Strich ging. Kurt Weill und Lotte Lenya entstammten Lebenswelten, die sich eigentlich nicht berührten. Dass die beiden trotzdem einander begegneten, war – wie so oft im Leben – ein glücklicher Zufall.
1913 war Karoline Wilhelmine Charlotte Blamauer, wie ihr Geburtsname lautete, mit 15 Jahren vor der familiären Misere nach Zürich geflohen, wo sie sich als Tänzerin und Schauspielerin versuchte. Acht Jahre später kam sie nach Berlin. Obwohl die junge Weimarer Republik wirtschaftlich und politisch in einer Dauerkrise steckte, galt die deutsche Reichshauptstadt künstlerisch als »the place to be«. Berlin war eine Art Versuchslabor, in dem eine neue Kunst, neue Ausdrucksformen und neues Empfinden entwickelt wurden. In dieser Zeit lernte Lotte Lenya, wie sie sich nun nannte, den expressionistischen Dramatiker Georg Kaiser und dessen Frau Margarethe kennen.
Man freundete sich an und Lotte besuchte die Kaisers regelmäßig in ihrem Haus in Grünheide bei Berlin. An den Sonntag im Sommer 1924, als Kaiser sie bat, einen Musiker am Bahnhof abzuholen, erinnerte sich Lotte Lenya: »›Wie erkenne ich denn diesen Herrn?‹ und Kaiser sagte: ›Ach, das ist ganz einfach; Komponisten sehen alle gleich aus.‹ Es war ein kleiner, verlassener Bahnhof – besonders sonntagvormittags war dort keine Menschenseele. Aber da stand ein kleiner Mann mit so einem typischen Musikerhut auf dem Kopf und dicker Brille.« Der Gast war Kurt Weill, und die Begegnung auf dem Bahnsteig war der Beginn einer leidenschaftlichen Beziehung, die bis zu Weills Tod im Frühjahr 1950 bestehen sollte.
Es dauerte nicht lange und Lotte Lenya zog zu Kurt Weill in dessen winzige Wohnung am Berliner Luisenplatz, Ende Januar 1926 heirateten die beiden, sehr zum Leidwesen von Weills frommen Eltern. »Sie ist eine miserable Hausfrau. Aber eine sehr gute Schauspielerin«, lästerte der Ehemann. »Sie kann keine Noten lesen, aber wenn sie singt, dann hören die Leute zu wie bei Caruso. (Übrigens kann mir jeder Komponist leidtun, dessen Frau Noten lesen kann.)« Obwohl Lotte in der Tat jedwede musikalische Ausbildung fehlte, wurde sie dank ihres sensiblen künstlerischen Gespürs im Laufe der Zeit zu Weills engster Beraterin und zu seiner berühmtesten Interpretin.
Fünf Rollen schrieb er ihr auf den Leib. Für Generationen prägte sie mit ihrer rauchigen, tiefen Stimme die ideale Spelunken-Jenny aus der Dreigroschenoper oder die Jenny aus Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny. Mit der ehelichen Treue nahmen es beide nicht so genau. Lottes Affären waren ebenso zahlreich wie beiläufig, sie bedeuteten ihr nicht viel, waren Amüsement und erotischer Zeitvertreib. »Kurt hatte nicht viele Affären«, erinnerte sie sich später. Einmal habe er sich in die Frau eines Freundes verguckt. Lotte nahm es gelassen: »Sie war ein kleines Sexpony, eine dieser derb-witzigen Blondinen. Ich kann mir gut denken, warum er so jemandem auf den Leim ging.« Dennoch zerbrach die Ehe von Kurt und Lotte 1932 – vorerst. Sie ließen sich scheiden, um 1937 erneut zu heiraten.
Zu dieser Zeit lebten sie bereits seit zwei Jahren in den Vereinigten Staaten, wohin sie vor den Nazis geflüchtet waren. In New City im Bundesstaat New York erwarben sie 1941 ein Haus, das zum Lebensmittelpunkt wurde. In der neuen Welt trat Lotte zeitweise in New Yorker Nachtklubs auf und sang Kurts Songs oder tourte mit einer Theatercompagnie durch das Endlosland, während er immer wieder viele Wochen in Kalifornien verbrachte. Wenn sie sich nicht sehen konnten, schrieben sie einander hinreißende Briefe voller Poesie und Schnoddrigkeiten, Klatsch, erotischer Indiskretionen und künstlerischer Neuigkeiten. Beide nahmen kein Blatt vor den Mund. »Gestern Nachmittag war ich auf einen Sprung bei Gershwins«, ließ Kurt sie im Mai 1937 wissen.
»Sie bewohnen einen Palast, mit Swimmingpool und Tenniscourt. Aber George ist noch dümmer geworden, als er schon war. Sie waren sehr nett zu mir.« Gesellschaftliche Kontakte zu anderen Emigranten waren Weill meistens unangenehm. Wenn sich ein Zusammentreffen nicht vermeiden ließ, blieb er in der Regel nur kurz und schickte seinem »Darling«, wie er Lotte nannte, am nächsten Tag einen ausführlichen Bericht. »Gestern abend musste ich zu Slezaks Dinnerparty«, lästerte er im August 1944. »Das war eins der ärgsten Flüchtlingstreffen, die ich je über mich ergehen ließ. Ein deutschsprachiger Abend schlimmster Sorte – denn das war nicht mal Deutsch, sondern diese abscheuliche ungarisch-wienerische Mischung. Die Werfels waren sehr nett. Er ist ein kranker Mann und sie eine alte Närrin, aber sonderbar warm und herzlich zu mir und ehrlich begeistert von Lady in the Dark, das sie zweimal gesehen hat. Walter Reisch beherrschte die Gespräche. Den sollte man gleich nach Hitler erschießen.«
Als Kurt Weill Anfang April 1950 an einem Herzinfarkt starb, war Lotte Lenya am Boden zerstört. Sie zog sich aus der Öffentlichkeit zurück und wachte mit kompromissloser Strenge über das Werk ihres verstorbenen Mannes. Doch Freunde überredeten sie, auf die Bühne zurückzukehren und Lotte spielte am Broadway die Spelunken-Jenny mit ebenso großem Erfolg wie Ende der 1920er-Jahre in Berlin. Für ihre Rolle der Contessa Magda Terribili-Gonzales in The Roman Spring of Mrs. Stone erhielt sie 1961 eine Oscar-Nominierung als beste Nebendarstellerin.
Zwei Jahre später spielte sie in dem James-Bond-Film Liebesgrüße aus Moskau die furchterregende Geheimagentin Rosa Klebb. Lotte Lenya heiratete noch zweimal – und überlebte auch diese Männer. 1979, zwei Jahre vor ihrem Tod, zog sie eine nachdenkliche Bilanz ihres Lebens mit Kurt Weill: »Wirklich gut kannte ihn eigentlich niemand. Ich habe mich oft gefragt, ob ich ihn gekannt habe. Ich war 24 Jahre lang mit ihm verheiratet, und bevor wir heirateten, lebten wir zwei Jahre miteinander, insgesamt also 26 Jahre. Aber als ich ihn sterben sehen musste, zweifelte ich, ob ich ihn jemals gekannt habe.«