Leone Sinigaglia hatte zwei große Leidenschaften: die Berge und die Musik. Gewissermaßen war er auf beiden Gebieten ein Pionier. Als Bergsteiger erklomm er die damals noch wenig beachteten Gipfel der Dolomiten und veröffentlichte seine Erfahrungen und Beobachtungen in seinem Buch Ricordi di arrampicate nelle Dolomiti, das damals in alpinen Kreisen Aufsehen erregte. Als Komponist widmete er sich einer in Italien, dem Land der Oper, sehr vernachlässigten Gattung: der Instrumentalmusik.
Sinigaglia, Spross einer wohlhabenden jüdischen Familie in Turin, studierte am dortigen Liceo Musicale Violine, Klavier und Komposition. Schon früh knüpfte er wichtige Kontakte zu führenden italienischen Komponisten wie Giacomo Puccini oder Alfredo Catalani. Entscheidend für seine weitere Entwicklung als Komponist wurden jedoch Studienaufenthalte in Wien und Prag, wo der Freundschaft mit den großen Komponisten seiner Zeit schloss: Johannes Brahms, Gustav Mahler und Antonín Dvořák. Deren spätromantische Musiksprache prägte auch Sinigaglias damaligen Stil – wie sein Violinkonzert zeigt. Es entstand in jenen Jahren für den Geiger Arrigo Serato, der das Werk 1901 mit den Berliner Philharmonikern aufführte. In der Konzertbesprechung der Neuen Zeitschrift für Musik kam das Stück nicht so gut weg, die Gedanken darin seien – so heißt es – »zu dürftig«.
Seinen Personalstil fand Sinigaglia auf Anregung Dvořáks. Dieser riet dem Komponisten, die Volksmelodien seiner piemontesischen Heimat in symphonische Werke zu integrieren. Fortan sammelte Sinigaglia die Volksmelodien des Piemonts und schrieb eine Reihe von Kompositionen, darunter auch die Rapsodia piemontese für Violine und Orchester oder die Danze piemontesi, die auf traditionellen Weisen basieren. Auch wenn viele Kritiker Sinigaglia beschuldigten, »Tavernenlieder in den Konzertsaal einzuführen«, kam er bei Publikum an – und auch bei Dirigenten wie Toscanini, Furtwängler oder Barbirolli. Beim letzten Konzert, das Gustav Mahler kurz vor seinem Tod dirigierte, erklang ebenfalls ein Werk Sinigaglias. Nach dem ersten Weltkrieg komponierte Sinigaglia allerdings nur noch wenig. Und kaum etwas ist auch aus seinem weiteren Leben bekannt.
Durch die Machtübernahme Hitlers in Deutschland bekamen auch antijüdische Bewegungen in Italien Auftrieb. Mit Einführung der italienischen Rassengesetze wurde ab 1938 die Situation der Juden immer schwieriger. Die Werke jüdischer Komponisten durften nicht mehr publiziert und aufgeführt werden. 1944 – Norditalien war von deutschen Truppen besetzt – sollte Sinigaglia wie viele seiner Glaubensgenossen nach Auschwitz deportiert werden. Auf dem Weg dorthin verstarb der 75-jährige an einem Herzinfarkt.
1868 Geburt in Turin
Musikstudium am Turiner Liceo musicale
1894 Studium in Wien; Freundschaft mit Brahms und Mahler
1900 Studium in Prag; Freundschaft mit Dvořák
1900 Komposition des Violinkonzerts und der Rapsodia piemontese
1901 Rückkehr nach Turin
1902 Beginn der systematischen Sammlung piemontesischer Volksmelodien
1903 Danze piemontesi
1909 Suite Piemonte
1944 Tod auf dem Weg nach Auschwitz