Das Schicksal hat es nicht gut mit Lili Boulanger gemeint. Mit 19 Jahren zieht sie an ihren männlichen Mitbewerbern vorbei und gewinnt als erste Frau den begehrten Kompositionspreis Prix de Rome – nur fünf Jahre später, 1918, stirbt sie. Eines ihrer letzten Werke trägt den Titel D'un matin de printemps (»An einem Frühlingsmorgen«). Anfang Januar erklingt dieses lebensmutige Stück erstmals in den Konzerten der Berliner Philharmoniker.
Glück und Unglück – wie dicht lag das in ihrem Leben beieinander: Ein Glück, dass Lili Boulanger 1893 in eine Musikerfamilie hineingeboren wurde. Vater Ernest, Komponist und Gesangslehrer am Pariser Konservatorium, und Mutter Raïssa, eine russische Sängerin, erkannten und förderten früh das herausragende musikalische Talent ihrer Tochter. Die Eltern waren im Pariser Kulturbetrieb gut vernetzt, unterhielten ein offenes Haus, pflegten freundschaftliche Kontakte mit Charles Gounod, Jules Massenet und Camille Saint-Saëns. Von klein auf bewegte sich Lili Boulanger in den tonangebenden Kreisen des französischen Musiklebens, sang als Sechsjährige Gabriel Fauré fehlerfrei vom Blatt vor, beeindruckte auf dem Klavier mit ihrem Prima-Vista-Spiel und überraschte immer wieder durch ihre Intelligenz und Wissbegierde.
Welche Tragik, dass Lili Boulanger im Alter von zwei Jahren an einer Bronchialpneumonie, einer chronischen Entzündung der Lunge, erkrankte, seither gesundheitlich schwer eingeschränkt war und bis zu ihrem frühen Tod von dieser Krankheit immer wieder ihre Grenzen aufgezeigt bekam. Nicht nur ihr eigenes Leiden erinnerte sie ständig an die Vergänglichkeit des Lebens. Als sie sieben Jahre alt war, brach ihr Vater plötzlich mitten im Gespräch tot zusammen. Ein traumatisches Erlebnis. Wen wundert es, dass das Kind daraufhin ein Lied über das Sterben schrieb. Religiöse und mystische Werke werden zukünftig in ihrem Schaffen einen großen Raum einnehmen.
Trost und Halt gab ihr die sieben Jahre ältere Schwester Nadia, auch sie musikalisch hochbegabt. Für die Mutter war es selbstverständlich, dass ihre Töchter professionelle Musikerinnen werden sollten, um unabhängig ihren Lebensunterhalt zu bestreiten – besonders, da eine Heirat für die gesundheitlich angeschlagene Lili eher unwahrscheinlich war. So schickte sie beide Töchter auf das Pariser Konservatorium.
Nadia zeigte dort glänzende Leistungen, doch Lili übertraf ihre Schwester bei Weitem. 1913 gewann sie mit ihrer Kantate Faust et Hélène den Prix de Rome – als erste Frau. Ganz Paris horchte auf. Die Jury überzeugte sie mit intelligenter Themenbehandlung, poetischem Gefühl, Sensibilität und Wärme sowie einer klugen und farbenreichen Orchestrierung. »Lili Boulanger hat […] über alle männlichen Konkurrenten gesiegt, und das mit einer solchen Überlegenheit, Schnelligkeit und Leichtigkeit, welche den anderen Kandidaten ernstlich unheimlich erschien«, berichtete die Zeitschrift Musica. »Es war keineswegs die Galanterie der Juroren, die ihr zum leichten Sieg verholfen hätte, im Gegenteil, es heißt, dass sie das junge Mädchen strenger beurteilten als ihre Mitbewerber. Die Frauenfeindlichkeit der Jury war bekannt.« Ihre Kantate begeisterte auch Claude Debussy, der bewundernd schrieb: »Lili Boulanger ist erst 19 Jahre alt. Ihre Erfahrung in den verschiedenen Disziplinen des Tonsatzes übertrifft jedoch ihre Jahre.«
Der Prix de Rome, den bereits so große Komponisten wie Hector Berlioz, Georges Bizet, Charles Gounod oder Claude Debussy, aber auch Lili Boulangers Großvater und Vater gewonnen hatten, ermöglichten einen mehrjährigen Studienaufenthalt in der Villa Medici in Rom. Zudem nahm der italienische Musikverlag Ricordi die junge Komponistin unter Vertrag und zahlte ihr ein jährliches Gehalt. In der Villa Medici konnte sich Lili Boulanger wegen ihrer gesundheitlichen Beschwerden in das soziale Leben nicht so einbringen wie gewünscht. Sie nahm ihre Mahlzeiten oft allein ein, was den Unwillen der Institutsleitung erregte, die glaubte, Lili Boulanger würde ihre Krankheit nur vortäuschen, um eine Sonderbehandlung zu bekommen. Die Studienkollegen hingegen schwärmten von ihrer charismatischen Persönlichkeit.
Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs änderte ihr Leben komplett. Statt zu komponieren, gründete sie zusammen mit ihrer Schwester das »Comité franco-américain du Conservatoire national«, mit dem sie die zum Kriegsdienst eingezogenen Studenten des Konservatoriums moralisch unterstützten. Sie versandten Briefe und Pakete und gaben eine Zeitschrift heraus, die es den Musikstudenten ermöglichte, untereinander in Kontakt zu bleiben. Dieses Engagement belastete Lilis Gesundheitszustand zusätzlich, von Schmerzen und Fieberschüben geschüttelt, konnte sie nur noch liegend arbeiten. Dem körperlichen Verfall stand jedoch eine Fülle an künstlerischen Plänen und Ideen gegenüber, dem gnadenlosen Schicksal die Stirn bietend. Am 15. März 1918 verlöschte ihr Leben.
Die Musik, die Lili Boulanger hinterließ, zeugt von ungeheurem Gestaltungswillen, sie ist eigenwillig, fantasievoll, klangfarbenreich und bildet eine Brücke vom Impressionismus zur Moderne. Die Komponistin beherrschte das changierende Spiel verschiedener Klangnuancen, wie sie es bei Debussy kennengelernt hatte, ließ sich von den modalen Klangwelten ihres Lehrers Fauré inspirieren und wusste trotz dieser Vorbilder einen eigenen Ton zu treffen.
1911 gab sie mit zwei Vokalwerken ihr öffentliches Debüt als Komponistin – und wurde vom Kritiker der Le Monde Musical als Sensation gefeiert, ihre Werke begeisterten durch »Frische und Inspiration«. Lili Boulanger selbst war nach eigener Aussage »vollkommen überwältigt«, als sie ihre Werke erstmals in der Öffentlichkeit hörte.
Mit ihren letzten vollendeten Kompositionen erhielten die beiden Seiten ihres Lebens, Glück und Unglück, nochmals musikalischen Ausdruck – das strahlende, lebensfrohe Stück D’un matin de printemps steht neben dem abgrundtief traurigen Werk D’un soir triste und der zärtlichen Stimmung des Pie Jesu, der Vertonung des letzten Textabschnitts aus der Totensequenz des Requiems.
Lili Boulanger wurde nur 24 Jahre alt. Ihre Schwester Nadia, die gleich nach ihrem Studium angefangen hatte zu unterrichten, überlebte sie um 61 Jahre. Sie wurde eine der berühmtesten Kompositionslehrerinnen des 20. Jahrhunderts; zu ihren Schülern zählten später u. a. Aaron Copland, Astor Piazzolla, Elliott Carter oder Philip Glass. Unermüdlich setzte sie sich für die Werke ihrer verstorbenen Schwester ein, dennoch erklingen diese in unseren Konzertsälen viel zu selten.
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