Autor*in: Luisa Aha

Matthew Hunter | Bild: Stefan Höderath

Seit fast 30 Jahren ist Bratscher Matthew Hunter Mitglied der Berliner Philharmoniker, doch die Zeit beim Orchester neigt sich für den gebürtigen US-Amerikaner langsam dem Ende zu. Auf seiner voraussichtlich letzten Tournee als offizielles Mitglied in den USA im November sprachen wir mit ihm über seine eher ungewöhnliche Karriere, seine Pläne für den kommenden Ruhestand und ein bisschen Philosophie.

Was bedeutet es für Sie als Amerikaner, wenn Sie mit Ihrem deutschen Orchester in die USA reisen?

Ich verstehe uns als Botschafter für Deutschland. Wir versuchen, das Beste zu zeigen, was Deutschland in musikalischer Hinsicht zu bieten hat, und ich bin sehr stolz auf diese Rolle. Da ich in amerikanischen und kanadischen Orchestern gespielt habe, weiß ich unsere einzigartige Musikkultur und Spielweise zu schätzen und bin mir sehr bewusst, dass wir für viele eine Art Leuchtturm sind. Obwohl ich fast 35 Jahre lang außerhalb der USA gelebt habe, freue ich mich immer wieder, wenn ich zurückkehre, um aufzutreten. Es ist ein großes Glück, dass auch zeigt, dass Musik keine Übersetzung braucht und die Kraft hat, Brücken zu bauen; und wir tragen einen kleinen Teil dazu bei.

Welche Unterschiede sehen Sie zwischen der amerikanischen und der europäischen Orchesterlandschaft?

Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass sich die Berliner Philharmoniker selbst verwalten. Das bedeutet, dass wir volle Kontrolle über unsere Arbeitsbedingungen, die Programmgestaltung, den Zeitplan und alle künstlerischen Entscheidungen haben, zum Beispiel wer ins Orchester aufgenommen und welche Dirigenten eingeladen werden. Das fördert die persönliche Verantwortung für das, was auf der Bühne passiert, ein aktives Engagement. Das ist die Grundlage für die einzigartige und sichtbare Energie unserer Aufführungen.

Was waren Ihre persönlichen Highlights auf dieser Konzertreise?

Dazu gehört auf jeden Fall unser Konzert in der Symphony Hall in Boston. Ich bin im Westen von Massachusetts aufgewachsen und war schon immer ein Fan des Boston Symphony und seines Konzertsaals. Dass wir dort gestern Abend Bruckners Fünfte Symphonie spielen durften, war ein ganz besonderes Erlebnis für mich. Der Saal ist ähnlich gebaut wie der Wiener Musikverein und hat eine hervorragende Akustik. 

Mit dem Konzert in der Boston Symphony Hall hat sich für mich ein Kreis geschlossen. Eine meiner frühesten musikalischen Erinnerungen ist ein Konzert mit Artur Rubinstein, das ich dort mit meiner Familie gehört habe. Dieses Erlebnis und das gestrige Konzert stehen gewissermaßen für Anfang und Ende meiner Karriere; ich war ja zum letzten Mal mit dem Orchester auf Konzertreise in den USA, was mich schon ein wenig wehmütig macht. 

Was fasziniert Sie an Bruckners Musik?

Seine Musik findet einen Widerhall in meiner Seele. Sie ist von großer Spiritualität, geprägt durch seinen katholischen Glauben. Ich fühle mich stark hingezogen zu dieser Spiritualität, seiner Vision von Gott, vom Ewigen oder einfach nur von der Ehrfurcht, die wir im Angesicht der Natur empfinden. Als Klangmaler erschafft Bruckner wunderbare Landschaften, die eine endlose Weite haben. Seine Musik erreicht Stille durch Klang.

Und das haben Sie auch gestern im Konzert gespürt?

Kirill Petrenko wählte Tempi und Abläufe, die den Raum nicht mit übermäßiger Resonanz überfrachteten. Statt einer erstickenden „Klangsoße“ herrschten Feinheit und Transparenz. Als die anfängliche Unruhe im Publikum nachließ, trat eine erfüllende, absolute Stille ein – ein Zeichen für die vollkommene Aufmerksamkeit und das konzentrierte Zuhören, die eine bedeutungsvolle Aufführung auszeichnen. In solchen Momenten spürt man eine tiefe Verbundenheit und Zusammenarbeit. Es ist niemals nur ein „Routinejob“, wenn man sieht, wie das Publikum von der Musik und der Kraft unseres Spiels buchstäblich von den Sitzen gerissen wird.

Das war Ihre letzte USA-Tournee als aktives Orchestermitglied. Macht Sie das traurig? 

Mein Verhältnis zum Ruhestand hat sich im Laufe der Zeit stark verändert. Früher erschien es mir, als würde ich auf eine aztekische Pyramide geführt werden, um mir das Herz herausschneiden zu lassen. Mittlerweile empfinde ich vor allem Dankbarkeit für eine erfüllte und befriedigende Karriere, die nun in ein neues und spannendes Kapitel meines Lebens übergeht. Ich habe nicht die Absicht, einfach nur am Kamin zu sitzen, die Füße hochzulegen und eine Pfeife zu rauchen. Ich möchte mir meine Lebensfreude bewahren und weiter vorankommen, damit meine Zukunft so bereichernd wird, wie meine Vergangenheit es war. 

Ich weiß, dass ich das Gefühl vermissen werde, Teil dieser Klangwelle zu sein, die von der Bühne donnert. Claudio Abbado sagte einmal, dass in einem Pianissimo mehr Musik stecken kann als in allen Fortissimos, und ich werde besonders diese leisen, intimen Momente vermissen. Insgesamt hoffe ich, die Energie dieser Erlebnisse zu bewahren, meine Vitalität zu erhalten und weiterhin voranzuschreiten, um eine Zukunft zu gestalten, die ebenso bereichernd ist wie meine Vergangenheit. Nach der Finsternis scheint die Sonne am hellsten.

Rückblick: Matthew Hunter auf USA-Tournee 2022

Sie haben neben Musik auch Philosophie studiert. Knüpfen Sie jetzt daran wieder an?

Ja, ich werde mich bestimmt wieder mit Philosophie beschäftigen. Aber für mich war Philosophie immer viel stärker eine Geisteshaltung als eine akademische Tätigkeit. Ich verbringe meine Zeit nicht mit der Lektüre großer Philosophen, aber Philosophie war für mich oft eine Hilfe, um mein Leben in entscheidenden Momenten zu verstehen. Sie hat mir zum Beispiel bei der Entscheidung geholfen, meine Bankkarriere aufzugeben und stattdessen Musiker zu werden.

Während meines Studiums habe ich Rat bei großen Künstlern gesucht und Gespräche über den Sinn des Lebens geführt. Oft habe ich indirekt die Frage gestellt: „Was soll ich mit meinem Leben anfangen?“ John Quincy Adams hat einst gesagt: „Ich bin ein Krieger, damit mein Sohn ein Kaufmann sein kann, damit sein Sohn ein Musiker sein kann.“ In dieser Dialektik liegt eine Richtung, die man einschlagen kann.

Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es eine der größten Herausforderungen der Menschheit ist, Künstler zu werden. Gleichzeitig ist es eines der größten Privilegien – kann man sich etwas Größeres vorstellen, als seine Energie der Verwirklichung einer idealen Klangwelt zu widmen? Aus philosophischer Sicht verbindet ein Leben, das der Musik gewidmet ist, uns mit dem Ewigen, mit dem Wesen jenseits der bloßen Darstellung. Das ist eine Idee, die sich bei Schopenhauer findet.

Wie passt das zu Ihrer musikalischen Reise?

Nach meinem College-Abschluss und einem Einstiegsjob im internationalen Bankwesen gab ich ein Geigenkonzert mit dem dramatischen Titel „Abschied von der Musik“. Nun ja, stattdessen habe ich mich vom Bankwesen verabschiedet und beschloss, in einer Art Fünfjahresplan mein Glück mit der Musik zu versuchen. Sollte ich in dieser Zeit keine Bestätigung dafür finden, dass ich als Musiker erfolgreich sein könnte, wollte ich zur Bank zurückgehen.

Gegen Ende der fünf Jahre probierte ich zum ersten Mal eine Bratsche aus. Als ich zum Geigenunterricht kam, hatte ich zufällig die Bratsche eines Freundes dabei, und mein Lehrer bat mich, ihm darauf etwas vorzuspielen. Ich spielte die Ballade von Ysaÿe, die ich gerade auf der Geige einstudierte, und irgendwas machte Klick. Mein Lehrer sprang auf, lief um mich herum und rief: »Verdammt noch mal, du bist ja ein Bratscher!« Ich war 27.

Und vermutlich haben Sie auch die Bestätigung gefunden, nach der Sie suchten?

Nachdem ich einen internationalen Bratschenwettbewerb gewonnen hatte, bekam ich eine Assistentenstelle an einer renommierten Musikhochschule, was für mich das Zeichen war, auf das ich gewartet hatte. Nach drei Monaten als Dozent gewann ich mein erstes Probespiel für eine Stelle in einem Profiorchester. Danach gab ich mir nochmal fünf Jahre, denn es war noch nicht ganz die Art von Orchester, nach der ich suchte. Am Ende dieser fünf Jahre bekam ich eine Stelle beim Canadian National Orchestra. Da war ich aber auch nicht restlos glücklich und gab mir weitere fünf Jahre. Und dann bekam ich die Stelle in Berlin und habe aufgehört mit den Fünfjahresplänen. (lacht)

Ich habe mich viel mit sowjetischer Geschichte und sozialistischer Planwirtschaft befasst, in der es ja diese Fünfjahrespläne gab. Vielleicht hat das mein Denken beeinflusst, aber fünf Jahre hielt ich für eine realistische Zeitspanne, um meine ganze Energie auf ein bestimmtes Ziel zu richten. Das würde ich überhaupt jedem raten, der mich fragt: Nimm dir fünf Jahre Zeit, investiere deine ganze Energie und schau, was passiert.

Sie spielen auch Gitarre. Viele im Publikum kennen Sie als Gitarristen bei Aufführungen von Mahlers 7. Sinfonie. Wie kam es dazu?

Die Gitarre ist seit meiner Kindheit ein enger Begleiter. Die Geige war für die Arbeit, die Gitarre für das Vergnügen. Da ich Autodidakt bin, gibt es für mich keine Regeln oder Autoritätsbilder beim Gitarrenspiel. Und vielleicht bedeutet die Gitarre für mich auch eine gewisse Freiheit, keinen Klang mit einem Bogen erzeugen zu müssen. 1997 war ich zufällig in unserem Künstlerischen Betriebsbüro, als jemand erwähnte, dass der Gitarrist für Mahler abgesagt hatte. In einem entscheidenden Moment sprang ich auf und sagte: „Das kann ich machen.“ Seitdem habe ich dieses Werk mit Dirigenten wie Claudio Abbado, Simon Rattle, Kirill Petrenko, Bernard Haitink und Zubin Mehta gespielt.

Hat Ihnen dabei geholfen, dass Sie schon Geige spielen konnten?

Definitiv. Meine linke Hand war durch die Geige schon sehr flexibel und der Wechsel zur Gitarre war kein Problem. Aber die Gitarre hat ihre ganz eigenen Herausforderungen. Bei der klassischen Gitarre braucht man zum Beispiel eine spezielle Technik in der rechten Hand. Meine linke Hand ist sehr geschickt, aber meine rechte Hand konnte da nie wirklich mithalten. Ich habe es mit verschiedenen Techniken versucht, aber die richtige habe ich immer noch nicht gefunden. Vielleicht ist das ein Fünf-Jahres-Projekt für den Ruhestand.

Kommen wir noch einmal zurück zum Thema Konzertreisen: Woran erinnern Sie sich da besonders gern?

Ein Erlebnis ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Am 3. Oktober 2001, also nur wenige Wochen nach 9/11, gingen wir auf Tournee. Die Sicherheitsvorkehrungen waren extrem, wir hatten sogar einen Sicherheitsbeamten der Bundesregierung mit an Bord. Als wir in Manhattan ankamen, waren die Straßen wie leergefegt. Kein einziges Auto, keine Menschen, nur staubbedeckte Fassaden und gelbe Blinklichter. Es war wie in einem Film nach der Apokalypse.

In unserem Hotel standen die Mitarbeiter Spalier und applaudierten, als wir ankamen. Es war sehr bewegend. Im Konzert spielten wir unter Claudio Abbado Mahlers Lied Ich bin der Welt abhanden gekommen mit Thomas Quasthoff. Das Publikum war sichtlich bewegt, viele mussten weinen. Auch wir auf der Bühne konnten unsere Tränen nicht zurückhalten. Es war einer der stärksten künstlerischen Momente meines Lebens, der mir gezeigt hat, was der eigentliche Sinn von Musik ist: die Menschen noch in den dunkelsten Momenten zusammenzubringen und miteinander zu verbinden.