Komponisten aller Epochen ließen sich von der Natur zu grandiosen Werken inspirieren. Ästhetik und Herangehensweise änderten sich jedoch mit der Zeit. Ein Streifzug anlässlich der Biennale der Berliner Philharmoniker Paradise Lost? – Von der Bedrohung der Natur
»Nichts ist musikalischer als ein Sonnenuntergang«, notierte Claude Debussy einmal. »Wenn ich stundenlang über die herrliche, sich ständig erneuernde Schönheit des Himmels sinniere, übermannt mich ein unvergleichliches Gefühl. […] Für den, der mit dem Herzen zu schauen weiß, ist es die schönste Lektion, geschrieben in jenes Buch, das Musiker nicht oft genug aufschlagen: die Natur.«
Der französische Komponist des Impressionismus wusste, wovon er sprach. Seine berühmtesten Werke leben von der Natur: der schwüle Sommernachmittag eines Fauns (Prélude à l’après-midi d’un faune), der Zauber der Nacht in Clair de lune, das Rauschen der Wellen in La mer. Allerdings, und hier wird es spannend, ging es ihm nie um die bloße Schilderung der Natur, sondern um ihre Nachempfindung – genauso wie die Gemälde seines geistigen Bruders Claude Monet eben keine fotorealistischen Darstellungen von Landschaften und Seerosen sind, sondern bewusst weichgezeichnete Stimmungsbilder. Um den Unterschied zu verdeutlichen, lohnt ein Streifzug durch den Mischwald der Musikgeschichte, wie ihn die Biennale Paradise Lost? – Von der Bedrohung der Natur unternimmt. Denn wiewohl die Natur zu allen Zeiten zu den beliebtesten musikalischen Sujets überhaupt zählte, war die Herangehensweise der Komponistinnen und Komponisten doch höchst individuell.
Im Zeitalter des Barock wetteiferte man förmlich darum, Phänomene der Natur ganz konkret in Tönen nachzubilden. Der Ursprung dürfte in der Oper gelegen haben, die Orchesterinstrumente auch als »special effects« nutzte: als heulenden Sturm mit Donner und Blitz etwa, der das Schiff des Helden an den Strand einer einsamen Insel wirft. Der Trend schwappte in den Konzertsaal, wo Antonio Vivaldi mit seinen Vier Jahreszeiten ein klingendes Panoptikum präsentierte: mit tanzenden Bauern, Sommergewitter, bellenden Hunden, prasselndem Regen und Passanten, die auf Eisflächen ausrutschen.
Spätestens bei Beethoven aber geriet dieser plakative Ansatz ins Wanken. Zwar enthält auch seine Pastoral-Symphonie eine idyllische »Szene am Bach«, ein »lustiges Zusammensein der Landleute« und ein furioses »Gewitter«. Doch so ganz up to date fühlte er sich mit dem ästhetischen Konzept der akustischen Reproduktion offenbar nicht, weshalb er es auf dem Titelblatt direkt wieder revidierte: »Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerei.« Debussy freilich nahm ihm dieses rhetorische Manöver später nicht ab und lästerte, dass die Fagotte dann wohl die Ochsen seien, die aus dem Bach tränken.
Beethovens Selbstzweifel zeigen: Der Sinn der puren Imitation stand zunehmend infrage. Aus rein künstlerischen Gründen, aber auch, weil die Lebenswirklichkeit der Menschen in der Stadt sich allmählich von der Natur abkoppelte. Umgekehrt stellten Aufklärung, Industrialisierung und Bürgergesellschaft andere Ansprüche an die Kunst. Joseph Haydn hatte in seiner »Schöpfung« 1798 noch die Welt musikalisch katalogisieren können, von der Ursuppe bis zu einer ganzen Tierparade, als ehrlich gemeintes, naives Gotteslob. Camille Saint-Saëns dagegen war sein Karneval der Tiere knapp ein Jahrhundert später höchst peinlich, weil er fürchtete, als ernsthafter Komponist nun nicht mehr ernst genommen zu werden.
Denn die Künstler des 19. Jahrhunderts interessierte die Natur nurmehr als poetisch aufgeladene Metapher. Für die Liebe, für die öffentlich tabuisierte Sexualität (in Goethes Gedicht »Heidenröslein« ist die Frau eine Blume, die vom Mann gepflückt wird), für heikle politische Statements. Themen, über die man eben nicht »unverblümt« sprechen oder singen konnte. Bei Franz Schubert trifft man zudem immer wieder auf die Figur des Wanderers – kein kerniger Outdoor-Sportler in Funktionsklamotten, sondern ein Außenseiter, der im ewigen Kreislauf der Natur vor allem Bilder für die Vergänglichkeit des eigenen Lebens sieht. In einer immer komplexer werdenden Gegenwart stilisierten die Romantiker die Natur aber auch zum Sehnsuchtsort einer idealisierten Vergangenheit, wie Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz und zahlreiche andere Werke rund um den deutschen Märchenwald bezeugen.
Auf die Spitze getrieben ist diese Perspektive in Igor Strawinskys Le sacre du printemps (Das Frühlingsopfer). 1913 uraufgeführt, blickt es mit quasi ethnologischem Forscherblick auf eine (fiktive) archaische Zeit zurück, in der noch Menschen geopfert wurden, um das Gleichgewicht mit den Göttern der Natur zu wahren. Sowohl die betont plumpe Ästhetik des Balletts – die Tänzer trampelten auf Bastlatschen über die Bühne – als auch die rohe, naturbelassene Musik sorgten für den wohl größten Skandal der Musikgeschichte.
Wieder eine andere Facette wird im Schaffen von Jean Sibelius sichtbar: Natur als Ausdruck nationaler Identität. Seine herben Klänge reflektieren die Landschaft seiner finnischen Heimat; mit seiner Tondichtung Finlandia lieferte er 1900 so etwas wie die inoffizielle Nationalhymne. Auf ähnlicher Mission unterwegs war Aaron Copland, der mit seinem Ballett Appalachian Spring dem Wunsch einer eigenständigen US-amerikanischen Musik Rechnung trug, losgelöst vom dominanten europäischen Vorbild. Auch in Südamerika rang man lange mit dieser ästhetischen Selbstermächtigung, bis Komponisten wie Heitor Villa-Lobos lokale Idiome und Sujets – in seinem Fall den brasilianischen Regenwald – mit dem Raffinement eines klassischen Symphonieorchesters verbanden.
Einen tatsächlich wissenschaftlichen Blick nutzt Miroslav Srnka als Grundlage für sein Auftragswerk Superorganisms, das im Rahmen der Biennale erstmals in Deutschland erklingt. Es bezieht sich auf kollektive Lebensformen, die größer und stärker sind als die Summe ihrer Teile: Korallen, Bienen- oder Ameisenvölker beispielsweise, von denen die egozentrierte Menschheit durchaus etwas lernen könnte. Wobei das Symphonieorchester an sich ein gelungenes Beispiel für eine immerhin temporäre produktive Kollektiv-Existenz darstellt.
Heute setzen sich Komponist*innen vielfach nicht nur mit der Natur musikalisch auseinander, sondern vielmehr mit ihrer Gefährdung. So etwa Brett Deans Fire Music für Orchester, in der er die Rolle des flammenden Elements in seiner Heimat Australien thematisiert: Einerseits in Zeremonien der Aborigines ebenso wie in gezielt gelegten Feuern zur Erschließung von Ackerland und zur Prävention von unkontrollierten Flächenbränden. Andererseits erinnert das Stück auch an die verheerenden Buschfeuer 2009, ausgelöst durch Temperaturen über 45 Grad, die ein Gebiet fast fünfmal so groß wie Berlin verheerten und mehr als 170 Todesopfer forderten.
Er ist damit nicht der einzige Komponist, der den Klimawandel als Thema für sich entdeckt hat. Aufbauend auf der schillernden Filmmusik Hanns Eislers Vierzehn Arten, den Regen zu beschreiben vertont Gregor A. Mayrhofer Klimakipppunkte. Sein neues Werk Tipping Points. Vierzehn Arten den Klimawandel zu beschreiben kommt in einem besonderen Gesprächskonzert mit Harald Lesch zur Uraufführung. Dabei geht es Mayrhofer auch darum, mithilfe der Musik, das physikalische Phänomen Klimawandel emotional erfahrbar zu machen – in seiner ganzen Bandbreite von Schock und Angst bis hin zu Hoffnung und Faszination für die Natur.
Die Isländerin Anna Thorvaldsdóttir schrieb Catamorphosis bereits 2020, als die globale Durchschnittstemperatur bereits 1,2 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau lag und bedrohlich nah an die 1,5-Grad-Marke heranrückte, unter der die schlimmsten Folgen der globalen Erwärmung noch abgewendet werden können. Diese Erkenntnis artikulierte sie in einem »ziemlich emotionalen Stück zwischen Kraft und Zerbrechlichkeit, Bewahrung und Zerstörung, Verzweiflung und Hoffnung«, das die Berliner Philharmoniker 2021 aus der Taufe hoben. »Noch halten wir als Weltgemeinschaft das Zepter in den Händen«, so Thorvaldsdóttir, »noch haben wir die Möglichkeit, die Zerstörung unseres Planeten zu verhindern und unsere Zukunft zu retten.« Wenn die Biennale Paradise Lost in Form hintersinniger Konzerte auf höchstem Niveau zum Nachdenken anregen und so immerhin einen kleinen Teil dazu beitragen kann, einen Sinneswandel herbeizuführen, darf es wohl nicht nur künstlerisch als Erfolg gelten.
»Reicht das, was wir tun?«
Marin Alsop, Pionierin am Dirigerstock, stellt im Rahmen der Biennale »Paradise lost?« vier Naturbilder aus unterschiedlichen Kontinenten vor und gibt ihr Debüt bei den Berliner Philharmonikern.
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