Autor*in: Nicole Restle
ca. 4 Minuten

Outi Tarkiainen | Bild: Anu Jormalainen

Ihre sphärischen, suggestiven Klänge besitzen eine verführerische Sogkraft. Sanft, aber eindringlich setzt sich die finnische Komponistin Outi Tarkiainen in ihren Werken mit der Natur und ihrer Bedrohung auseinander. Bei der Biennale Paradise lost? präsentieren die Berliner Philharmoniker die Uraufführung ihres neuen Stücks Day Night Day. Aus diesem Anlass erzählt uns Outi Tarkiainen, warum sie Komponistin wurde und wie die Natur und die Traditionen der Samen, der indigenen Bevölkerung Finnlands, ihre Musik prägen.

Wie und wann haben Sie entdeckt, dass Sie eine Komponistin sind?

Seit meiner frühen Kindheit ist das Komponieren ein Teil von mir. Im Wohnzimmer meines Elternhauses stand ein Klavier und ich liebte es bereits als Vierjährige, darauf zu improvisieren – ich konnte Noten schreiben, bevor ich Buchstaben schrieb. Ich komponierte auch ohne Klavier: Gerne ging ich in dem kleinen Wald neben unserem Haus spazieren – und kam mit einem Lied zurück.

Seit Sibelius ist der Eindruck entstanden, dass finnische Komponist*innen die Natur viel stärker in ihre Musik einbeziehen als Komponist*innen aus anderen Ländern. Wie sehen Sie das?

In Finnland, aber auch in den anderen nordischen Ländern, ist die Natur viel präsenter und näher am Menschen als in Mitteleuropa. Es ist noch nicht lange her, dass die Menschen hier ausschließlich von der Landwirtschaft gelebt haben. In diesen Zeiten waren sie vom Wetter und den natürlichen Bedingungen abhängig. In Lappland, von wo ich herkomme und wo ich lebe, gibt es viele Rentierzüchter, die noch das uralte Wissen um die Zeichen der Natur besitzen, die sich jetzt durch den Klimawandel verändern.

Ihr neues Werk, das die Berliner Philharmoniker uraufführen, heißt Day Night Day. Wie sind Sie auf die Idee zu diesem Stück gekommen?

Die Idee zu diesem Stück entstand während des Arbeitsprozesses an meiner kommenden samischen Oper Day of Night, die im Auftrag des Aalto Musiktheater Essen und des Finnish National Opera and Ballet entsteht. In der Oper geht es um große Kontraste und Widersprüche – genau wie im Leben in der Arktis. Jeder Akt der Oper beginnt mit einem Orchestervorspiel, in dem die Jahreszeit wechselt – in Sápmi, dem Land der Samen, gibt es acht Jahreszeiten (Winter, Frühlingswinter, Frühling, Frühsommer, Sommer, Spätsommer, Herbst, Herbstwinter, Anm. d. Red.) – und in Day Night Day hören wir Frühlingswinter und Frühsommer, also den Wechsel von Dunkelheit zu Licht.

Der Titel klingt wie eine Komposition voller musikalischer Kontraste. Wie sehen Tag und Nacht bei Ihnen aus?

Bei mir zu Hause am Polarkreis sind Tag und Nacht sind sehr flexible Begriffe. Im Sommer sind die Nächte leuchtend hell und im Hochwinter ist der hellste Moment des Tages die Dämmerung. In meiner Oper gibt es den Satz: »Auch die Dunkelheit hat einen Zweck: Sie ist ein Schutz, ein Ort, an dem man ruht, wächst und träumt.« Ich denke, das ist sehr wahr, denn das ständige Licht kann nicht nur anregend, sondern letztlich auch anstrengend sein. Aber diese großen Kontraste bilden einen sehr klaren Rahmen für das Leben.

Sie verwenden in dem Stück einen Joik, ein altes samisches Lied. Worum geht es in dem Lied und was macht es für Sie als Komponist so reizvoll?

Das Werk enthält Bezüge zu zwei samischen Melodien: ein Joik über eine Frau mit dem samischen Namen Láve Nigá Risten (1920-1944). Sie stammte aus einem Ort am Fluss Deatnu, dem Grenzfluss zwischen Norwegen und Finnland. Ich suchte nach einer bestimmten Art von Joik, um die Hauptfigur meiner Oper musikalisch zu charakterisieren, und der Joik über Láve Nigá Ristens hatte alle Qualitäten, die ich suchte – er ist von außergewöhnlicher Schönheit, ein wenig melancholisch und trägt eine kraftvolle weibliche Energie in sich. Wir hören ihn zu Beginn des Werks, angekündigt von gedämpften Trompeten. 

Das andere samische Lied in diesem Werk ist eine Variation des alten südsamischen Wiegenlieds Sjamma, sjamma, das am Ende von den Holzbläsern summend intoniert wird. Es ist ein zeitloses, sehr schlichtes und schönes Wiegenlied für ein Kind in der Wiege. 

Worauf sind Sie besonders gespannt, wenn Sie das Stück zum ersten Mal von einem Orchester gespielt hören?

Bei den Orchesterproben ist der faszinierendste Moment, wenn die Musiker beginnen, die Musik und das, was dahinter steckt, zu verstehen. Es ist der Augenblick, in dem es nicht mehr so klingt, als würden sie die Noten nur ablesen, sondern als würden sie die Musik tatsächlich ausdrücken – und im besten Fall fühlt es sich an wie Fliegen.

Natürlich bin ich als Komponistin neugierig darauf, zu hören, wie die Dinge, die ich mir nur vorgestellt habe, in Wirklichkeit klingen. Meist gibt es noch kleinere oder größere Anpassungen, oft ein Feintuning des Klangs. Doch der Moment, in dem eine Komposition wirklich geboren wird, ist die Uraufführung. Das ist ein unvergleichlicher Augenblick, in dem man spürt, wie das Publikum auf das Werk reagiert. Schließlich können Komponistinnen und Komponisten ihre eigenen Werke niemals zum ersten Mal so hören wie das Publikum!

Worauf sollten unsere Zuhörer beim Hören von Day Night Day besonders achten?

Ich schlage vor, sich einfach zurückzulehnen und die Reise zu genießen! Ich ermutige jeden, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen, wohin auch immer sie führt.

Marin Alsop lehnt an einer Mauer

Marin Alsop dirigiert Outi Tarkiainens »Day Night Day«