Autor*in: Martin Demmler
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Peter Eötvös | Bild: Marco Borggreve

Im März dieses Jahres ist der Komponist und Dirigent Peter Eötvös im Alter von 80 Jahren gestorben. Mit der deutschen Erstaufführung seines Klavierkonzertes Cziffra Psodia ehren die Berliner Philharmoniker einen leidenschaftlichen Musiker, der dem Orchester über Jahrzehnte hinweg verbunden war.

»Man wird durch jede Form von Kultur geprägt. Und ich wäre glücklich, wenn ich am Ende meines Lebens das Gefühl hätte, die Welt durch mich hindurchgelassen zu haben und dass etwas hängen geblieben ist in mir wie in einem Sieb.« Hängen geblieben ist sicher eine ganze Menge: Peter Eötvös, in Transsilvanien geboren und in Ungarn aufgewachsen, in Deutschland zum Dirigenten ausgebildet und schließlich in aller Welt in den Konzertsälen zu Hause, war ein musikalischer Weltbürger par excellence. Viele verschiedene Kulturen haben seine musikalische Identität geprägt und ihm ist es gelungen, all diese unterschiedlichen Einflüsse zu einem unverwechselbaren Personalstil zu amalgamieren. Gegen Ende seines Lebens war das Sieb gut gefüllt. Dieser Erfahrungsschatz machte ihn zu einem der meistgespielten Opernkomponisten unserer Zeit.

Musikalische Reisen

Offenheit, Experimentierlust und ein untrügliches Gespür für die unterschiedlichsten musikalischen Ausdrucksbereiche – das waren vielleicht die wichtigsten Bausteine der künstlerischen Erfolgsgeschichte des Peter Eötvös. Seine bildhafte, ja oft geradezu sprechende Musik ist nicht nur für die Spezialisten der Avantgarde, sondern auch für das Publikum der großen Konzertsäle und Opernhäuser verständlich. Und vom Publikum verstanden zu werden, das war für den ungarischen Komponisten und Dirigenten eine entscheidende Motivation seines Schaffens. »Meine Musik erzählt immer etwas, es gibt immer eine Geschichte. Die sogenannte absolute Musik ist nicht mein Fall«, erklärte er. »Für mich ist es sehr wichtig, dass schon der erste Ton eine Einladung an das Publikum ist. Ich möchte die Menschen mitnehmen: Sie sollen nicht bloß zuhören, sondern teilnehmen.«

Als Sohn einer Pianistin und Musikpädagogin war Eötvös von Kindesbeinen an von Musik umgeben. »Schon mit vier Jahren habe ich angefangen zu komponieren, einfach so. Noten und Buchstaben schreiben, Klavier spielen, das gehörte einfach zu meinem Leben«, erinnerte er sich später. Trotzdem hätte er vermutlich am liebsten eine Karriere als Kosmonaut eingeschlagen, denn kein Ereignis prägte den 17-Jährigen so stark wie Juri Gagarins erster Weltraumflug 1961. Doch da war er längst, übrigens einer der jüngsten, Schüler in der Kompositionsklasse von Zoltán Kodály an der Musikakademie in Budapest. Aber der Weltraum ließ ihn nicht los. Und so eröffnet das Klavierstück Kosmos seinen Werkkatalog. »Es wird heute immer noch gespielt und scheint gar nicht schlecht zu sein«, erklärte er später schmunzelnd und auch ein wenig stolz.

Von Budapest nach Darmstadt

Auch wenn Eötvös die Musik seines Landsmanns Bartók als seine »Muttersprache« betrachtete, interessierten ihn trotzdem brennend die musikalischen Entwicklungen im Westen Europas. 1965 konnte er erstmals die Darmstädter Ferienkurse besuchen, ein Jahr später führte ihn ein Auslandsstipendium nach Köln, wo er bei Bernd Alois Zimmermann studierte. »Das war damals das Weltzentrum der Neuen Musik. Mich haben vor allem das Elektronische Studio und das Sinfonieorchester des WDR interessiert. Ich träumte davon, Stockhausen kennenzulernen und das Schicksal hat mitgespielt. Ab da hatten wir mehr als 40 Jahre Kontakt zueinander, bis zu seinem Tod.« Eötvös wurde Mitglied im Stockhausen-Ensemble, wo er Klavier, Schlagzeug und Synthesizer spielte. In dieser Funktion war er im Mai 1972 auch erstmals in der Berliner Philharmonie zu Gast mit Stockhausens Hymnen. Er arbeitete als Tonmeister und dirigierte später auch die Uraufführungen von Montag und Donnerstag aus Stockhausens Musiktheater-Zyklus Licht. 1979 folgte er dem Ruf von Pierre Boulez nach Paris, wo er für viele Jahre die Leitung des Ensemble InterContemporain übernahm.

Trotz der engen Beziehung zu Stockhausen und Boulez ließ sich Eötvös nicht von einer ästhetischen Richtung vereinnahmen, als damals eine schwere Auseinandersetzung zwischen diesen beiden radikalen Vertretern der Avantgarde auf der einen und Hans Werner Henze auf der anderen Seite tobte. »Ich habe versucht, in dieser teils heftigen Diskussion unabhängig zu bleiben, und ich bin froh, dass ich als Komponist nie zu einer Schule gehört habe. Für mich war damals beides wichtig, ich fand beide Welten interessant. Heute ist diese Ära zum Glück vorbei.«

Internationale Durchbruch 

Als Eötvös 1991 seine Tätigkeit als Musikchef des Ensemble InterContemporain nach zwölf Jahren aufgab, standen ihm als Dirigent die Konzertsäle der Welt offen. 1999 leitete er erstmals die Berliner Philharmoniker. Doch widmete er sich jetzt vermehrt seinem eigenen kompositorischen Schaffen, und zwar – nach wichtigen Orchester- und Ensemblewerken wie Psychokosmos, Shadows oder Atlantis –vor allem der Welt der Oper. Bereits als Student in Budapest hatte er immer wieder für Film und Theater gearbeitet. »Dort merkt man sofort, ob die Musik mit einem Publikum funktioniert oder nicht. Und wenn es funktioniert, erzeugt die Musik in der Vorstellung Bilder. Klangtheater bedeutet also, dass wir etwas sehen, obwohl wir ›nur‹ Musik hören. Das ist meine Musik: eine bildhafte Sprache.«

1998 gelang ihm mit der Uraufführung seiner Vertonung von Anton Tschechows Drei Schwestern in Lyon der internationale Durchbruch als Opernkomponist. Viele weitere Arbeiten für das Musiktheater folgten. Tatsächlich war Eötvös ein genuiner Musikdramatiker, sogar seinen instrumentalen Werken ist immer eine erzählerische Dramaturgie abzulauschen. »Ich könnte jeden Tag ins Theater gehen«, bekannte er einmal. Geradezu detailversessen arbeitete er an den Libretti seiner Musiktheaterwerke. »Die Oper als Gattung beschäftigt sich ja fast immer mit dem Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft. Wenn die Figuren keinen Konflikt mit ihrem Umfeld haben, geht es in der Oper lediglich schön und manchmal langweilig zu. Dann entsteht keine Spannung und auch kein Crescendo, um es mal einfach zu sagen.« 

Musikalisch nutzte Eötvös eine riesige Bandbreite von Ausdrucksmöglichkeiten: Bezüge zur traditionellen Dur-Moll-Tonalität finden sich ebenso wie Elemente einer oft gestenreichen, avantgardistischen Tonsprache, Einflüsse außereuropäischer Musikkulturen oder des Jazz. Apropos Jazz: Vor allem in seinen Werken vor der Jahrtausendwende spielt Improvisation oft eine zentrale Rolle. »Wenn eine Mischung bestünde zwischen kompositorischem und improvisatorischem Denken und diese Tradition weitergeführt würde, wäre dies für mich die ideale Zukunft«, erklärte er damals. Doch das blieb Utopie, und Eötvös blieb beim Komponieren.

Hommage an Georges Cziffra

Peter Eötvös war ein musikalischer Kosmopolit. Dennoch blieb er seinen ungarischen Wurzeln immer verbunden, nicht nur durch die Eötvös-Stiftung, die sich, 2004 in Budapest gegründet, um die Ausbildung junger Musiker kümmert. Auch sein 2021 uraufgeführtes Klavierkonzert Cziffra Psodia führt zurück in seine musikalische Vergangenheit. Den ungarischen Pianisten Georges Cziffra kannte Eötvös seit Kindertagen. Er zählte zu den bedeutendsten ungarischen Pianisten des 20. Jahrhunderts, geriet im Zweiten Weltkrieg in russische Kriegsgefangenschaft, versuchte in den 1950er-Jahren erfolglos, seine Heimat zu verlassen, wurde in ein Zwangsarbeitslager gesteckt und zog sich schließlich nach seiner Emigration ganz aus der Öffentlichkeit zurück. Ein politisches Schicksal, typisch für die totalitären Regime des 20. Jahrhunderts. »Sein ganzes Leben war von Erfolg und Tragödie begleitet«, so Eötvös. »Genau diese Atmosphäre habe ich versucht, in meinem Klavierkonzert zu erzeugen.« Es ist das rhapsodische Porträt eines vom Leben Gezeichneten, das der Komponist hier entwirft, in dem das Cimbalom, das ungarische Nationalinstrument, nicht zufällig eine zentrale Rolle spielt. »Meine Musik erzählt immer etwas« ‒ das hat Peter Eötvös mit seinem Klavierkonzert erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt.