Peter Tschaikowsky gilt zu Recht als Maestro der Ballettmusik. Er verteidigte sie gegen Zeitgenossen, die sie als bloße Begleitmusik einstuften, und fand im Schreiben von Dornröschen, Schwanensee und Der Nussknacker eine große Freiheit und Unbeschwertheit. Eine Liebesgeschichte.
Das Haar ist schütterer und grauer geworden, die vermehrt depressiven Momente setzen ihm zu. Seine Sehkraft lässt nach, so dass er gerade im Winter schwerer lesen kann. Es sind die späten 1880er-Jahre, Peter Tschaikowsky geht langsam auf die fünfzig zu. Gerade hat er seine Fünfte Symphonie abgeschlossen, er begibt sich auf eine Europatournee, um eigene Werke zu dirigieren. Wie schon seine vorige Reise endet auch diese im Nebel von London.
In dieser – auch im übertragenen Sinne – frühherbstlichen Phase seines Lebens kehrt Peter Tschaikowsky in die Welt des Balletts zurück, die er Jahre zuvor hinter sich gelassen hatte. Auslöser ist ein Auftrag des Direktors des Mariinski-Theaters von Sankt Petersburg, Iwan Alexandrowitsch Wsewoloschski, der im Mai 1888 um eine neue Ballett-Musik bat: Dornröschen, nach einer französischen Vorlage von Charles Perrault. Der Direktor selbst entwarf die erste Handlungsskizze, der Komponist zeigte sich angetan, arbeitete Teile während seiner Europareise aus und war am Ende mit seiner Arbeit sehr zufrieden: »Dornröschen ist vielleicht mein bestes Werk.« So angreifbar absolute ästhetische Urteile sein mögen, gibt es doch für Tschaikowskys Einschätzung gute Gründe: eine raffinierte Harmonik mit kühnen Modulationen, eine betörende Fülle an Melodien, flexible Rhythmik – all das wird verwoben zu einer ganz eigenen Melange von Farben.
Schon weit vor seinen Ballettkompositionen hatte Tschaikowsky eine Vorliebe für tänzerische Musik. Bereits in frühen Jahren verwendete er Walzer, Mazurkas, Polonaisen, russische Tänze. Schaut man sich die Klavierwerke dieser Zeit an, so begegnen uns Titel wie Polka de salon, Valse-Caprice oder Scherzo humoristique. In seinen Balletten wurde der Tanz schließlich zum Motor einer Handlung und damit Teil einer Geschichte. Diese Geschichte ist in Tschaikowskys drei berühmtesten Balletten Schwanensee, Der Nussknacker und Dornröschen ähnlich konstruiert. Es geht um die – der literarischen Gattung des Volksmärchens nahe – Konfrontation von Gut und Böse und um den Sieg über die Finsternis.
Tschaikowsky gelingt es in seinen Balletten, die Zuschauer wegzuführen vom Alltäglichen hinein in Traumwelten – im Gegensatz zu seinen Symphonien, wo das Leben abgründiger, katastrophennäher erscheint. Eine Musik wie in seiner Fünften oder Sechsten Symphonie, der »Pathétique«, wäre in Tschaikowskys Balletten nicht denkbar – und umgekehrt. Beispiel: die Fünfte. Etwas dauerhaft Trauriges durchzieht die ersten Sätze dieser Symphonie, selbst der Walzer im dritten Satz lebt von einer latenten Tristesse, und der vermeintliche Siegestaumel im Finale wirkt brüchig. So erweckt dieser Schlusssatz den Anschein, als wäre es letztlich sinnlos, gegen das Schicksal anzukämpfen. Solche Brüche gibt es in den Balletten nicht. Warum ist das so?
Tschaikowsky hat einmal erklärt, »nur in andauernder hartnäckiger Arbeit« es dahin gebracht zu haben, »Formen zu vollenden, die bis zu einem bestimmten Grad dem Inhalt entsprechen«. Vor allem das Komponieren in symphonische Formen ist in diesem Sinne anspruchsvoll – denn immer bewegt man sich in einer abstrakten, mehrdeutigen Welt. Leichter und mit größerer Freiheit lassen sich die kürzeren Abschnitte eines Handlungsballetts vertonen. Diese Freiheit hört man Tschaikowsky an, sogar Raum für Humor gibt es.
Zudem gibt sich Tschaikowsky in der Instrumentierung seiner Ballette experimentierfreudiger. Erinnert sei nur an den Pas de deux zwischen Zuckerfee und ihrem Kavalier im Nussknacker. Hier erklingt ein Instrument, das Tschaikowsky in Paris entdeckt hatte: die Celesta. Sie sei »ein Mittelding zwischen einem kleinen Klavier und einem Glockenspiel, mit einem göttlich schönen Klang. Dieses Instrument will ich in dem symphonischen Poem Der Wojewode und im Ballett anwenden.« Von der Celesta erhoffte Tschaikowsky sich »eine kolossale Wirkung«, die er tatsächlich auch erzielte. Die Musik zum Nussknacker erscheint insgesamt aus Kinderperspektive heraus entwickelt, mit einem unmittelbar erlebbaren Kontrast zwischen einem unheimlich-nächtlichem Mäusekrieg und dem zauberhaften Reich der Zuckerfee. So komponierte Tschaikowsky hier unter einem unbeschwerten Blickwinkel, den er in seinen Opern, in der Kammermusik und in seinen Symphonien so nicht einnehmen konnte.
Einem Einwand gegen die Gattung Ballett durch seinen ehemaligen Studenten und späteren Freund Sergej Tanejew entgegnete Tschaikowsky im März 1878: »Ich kann beim besten Willen nicht begreifen, […] warum Sie einer solchen Musik nichts abgewinnen können. Verstehen Sie etwa unter Ballettmusik jede fröhliche Melodie, die einen tänzerischen Rhythmus hat?
Dann aber müssten Sie auch gegen die meisten Beethoven-Symphonie voreingenommen sein, in denen sich auf Schritt und Tritt solche Melodien finden. […] Überhaupt kann ich beim besten Willen nicht begreifen, wie mit dem Wort ›Ballett‹ irgendetwas Negatives verbunden sein soll.«
Möglicherweise sah sich Tschaikowsky anfangs Vorurteilen ausgesetzt: das Ballett als vermeintliche B-Kunstform, als musikalische Nische, die einfach nur die Grundlage für tänzerische Bewegungen liefern soll? Nicht für ihn. Seine Werke zeigen auf geradezu exemplarische Weise, dass die Herausforderung einer Ballettmusik weit über eine solch funktionale Ebene hinausgeht. Tschaikowsky gelingt es in seinen drei wichtigsten Balletten, szenische und psychische Vorgänge musikalisch abzubilden, sie vorzubereiten und nachvollziehbar zu machen. Treffend charakterisierte Igor Strawinsky, neben Tschaikowsky der berühmteste Komponist der Gattung Ballett, die Qualitäten von Dornröschen: »Jeder Auftritt, überhaupt jeder Bühnenvorgang ist immer individuell nach dem Charakter der jeweiligen Person behandelt und jede Nummer hat ihr eigenes Gesicht.«
Trotz der engen Verbindung zwischen Handlung, Tanz und Musik in seinen Balletten sperrte sich Tschaikowsky nicht gegen die Veröffentlichung von Orchestersuiten für den Konzertsaal, zumal das Überleben seiner Musik so eher gesichert war. Wie ernst er solche Zusammenstellungen nahm, zeigt sich am Beispiel der Dornröschen-Suite, die ab 1890 im Raum stand. Tschaikowsky haderte immer wieder mit der Auswahl, auf keinen Fall solle hier ein »Potpourri« entstehen. Auch dürfe die musikalische Substanz der einzelnen Sätze nicht angetastet werden: »Es ist nicht erforderlich, eine einzelne Note zu ändern. Was für eine Symphonie gilt, gilt ebenso für ein Ballett!«