Er wollte die Normen des europäischen Musikbetriebs sprengen – und wurde letztendlich eine seiner prägendsten Persönlichkeiten: Pierre Boulez, am 26. März 1925 im ostfranzöischen Montbrison geboren, beeindruckte als Komponist und Dirigent durch einen scharfen analytischen Intellekt und eine unbedingte Hingabe an die Musik. Rationalität und Sinnlichkeit waren für ihn keine Gegensätze, vielmehr zwei Aspekte, die es in der Musik zu vereinen galt. Den Berliner Philharmonikern war Boulez fast 50 Jahre künstlerisch verbunden.
Angefangen hat alles in der Saison 1960/61. Wolfgang Stresemann, damaliger Intendant der Berliner Philharmoniker, hatte mit der Reihe Musik des 20. Jahrhunderts ein neues Konzertformat eingeführt, das wichtige zeitgenössische Werke unter der Leitung führender Komponisten der Neue-Musik-Szene vorstellte. Eingeladen war auch Pierre Boulez, ein Schüler von Olivier Messiaen und René Leibowitz. Bei den Darmstädter Ferienkursen und den Donaueschinger Musiktagen, den tonangebenden Experimentallaboren zeitgenössischer Musik, gehörte er zu den wichtigen Stimmen. Er verstand es, mit seiner Musik und seinen Worten zu polarisieren, herauszufordern und zum Nachdenken anzuregen. Gerade hatte er aus Protest gegen die französische Algerien-Politik und Kulturpolitik seiner Heimat den Rücken gekehrt und sich im beschaulichen Kurort Baden-Baden niedergelassen, wo er bis zu seinem Tod 2016 lebte. Sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern am 14. Januar 1961 bestritt er mit Debussys Iberia und Weberns Sechs Stücken für Orchester wie auch mit einem eigenen Stück, dem Portrait de Mallamé. »Ich empfand es doch als schwierig«, erinnerte sich Boulez. »Es gab nicht viel Publikum – aber die, die zuhörten, haben die Musik interessiert aufgenommen.«
Als Bannerträger der Neuen Musik kam Boulez im Rahmen dieser Konzertreihe mehrmals nach Berlin, doch dann nahmen ihn andere Aufgaben in Anspruch: seine Verpflichtung als Erster Gastdirigent des Cleveland Orchestra, seine Chefposten beim Symphonieorchester der BBC und den New Yorker Philharmonikern und vor allem der Aufbau des Pariser IRCAM, des Institut de Recherche et Coordination Acoustique/Musique, das zu einer weltweit führenden Institution auf dem Gebiet der elektronischen Musik wurde. Fast 20 Jahre lang blieb Boulez Berlin fern. Erst 1993 – die Konzertreihe Musik des 20. Jahrhunderts gab es längst nicht mehr – setzte er die Zusammenarbeit mit den Berliner Philharmonikern, deren Brillanz und Virtuosität er immer wieder lobte, fort. Wann immer Boulez ans Pult der Berliner Philharmoniker trat, dirigierte er Bartók, Ravel, Debussy, Webern oder Strawinsky. »Von mir erwartet keiner, dass ich Mozart, Beethoven und Schumann aufführe, sondern das Repertoire des 20. Jahrhunderts. Die Berliner Philharmoniker haben ja sehr viel Mahler gespielt und mich freut es, mit ihnen etwas zu musizieren, das zwar moderner ist, aber auf Mahler aufbaut.«
Ein Höhepunkt war sein Auftritt beim Europakonzert der Berliner Philharmoniker im Hieronymus-Kloster in Lissabon 2003. Dabei ergab sich die seltene Gelegenheit, Boulez als Mozart-Dirigent zu erleben: im Klavierkonzert Nr. 20 mit Maria João Pires als Solistin. Die Berliner Philharmoniker schätzten ihn für seine Präzision, seine intelligente Gestaltung und seine analytische Sachlichkeit, die bekannte Werke oft im neuen Licht präsentiere. Auch als Komponist war Boulez für das Orchester von großer Bedeutung – seine Werke standen regelmäßig auf dem Programm, nicht nur bei seinen eigenen Gastspielen. Die besondere Verbindung wurde 2005 bei einem gemeinsamen Konzert zur Feier von Boulez’ 80. Geburtstag spürbar. Nicht zuletzt fühlten sich die Berliner Philharmoniker mit dem Menschen Boulez verbunden, bei dem sich unbestechlicher Scharfsinn mit großer persönlicher Liebenswürdigkeit paarte.