Der britische Komponist Ralph Vaughan Williams gilt als einer der größten Symphoniker des 20. Jahrhunderts. Dennoch stehen seine Werke eher selten auf den Spielplänen der deutschen Konzerthäuser. Im Oktober 2022 jährte sich der Geburtstag des Komponisten zum 150. Mal. Anlass genug, dem Alleskönner ein Porträt zu widmen.
Das Vorurteil muss endlich aus dem Weg geräumt werden: Die üble musikhistorische Nachrede gegen England, es sei ein »Land ohne Musik«, existiert sehr zu Unrecht. Der kontinentale Trotz mag zwar einwenden, dass die Engländer nicht kontinuierlich große und größte Komponisten hervorgebracht hätten, ja dass zwischen Purcell und Elgar sogar eine auffallende Traditionslücke klaffe. Doch dieser genealogische Mangel müsste gerechterweise auch oder erst recht bei anderen Ländern ins Gewicht fallen.
Edward Elgar war es, der den Bann brach und sein Land aus der musikalischen Bedeutungslosigkeit befreite. Die Uraufführung seiner Enigma Variations im Jahr 1899 wird in der englischen Musikgeschichtsschreibung wie die Stunde null oder der Tag der
Wiedergeburt gefeiert. Den jüngeren Generationen blieb es aufgetragen, die verheißungsvoll begonnene Geschichte fortzuschreiben. Und die Zeiten konnten nicht günstiger sein für Elgars Erben. Das Vereinigte Königreich wurde von einem beispiellosen musikalischen Gründungsfieber erfasst, neue Orchester und Konzertsäle lockten das Publikum in Scharen.
Ralph Vaughan Williams aber hätte seine Musik gewiss auch unter widrigeren Umständen geschrieben: Unabhängigkeit – in Urteil und Zielsetzung – bewährte sich in allen historischen Wechselfällen als sein hervorstechender Charakterzug. Den konnte er sich freilich gut leisten, im wahrsten Sinne des Wortes, da er als Spross einer bedeutenden Anwalts- und Gelehrtenfamilie (kein Geringerer als Charles Darwin war sein Großonkel) materielle Sorgen nicht zu fürchten hatte.
Von 1903, als der einstweilen noch unprominente junge Komponist die ersten Einfälle zu seiner Sea Symphony notierte, bis 1958, als wenige Monate vor seinem Tod die letzte Symphonie des 85-jährigen Meisters, des »Grand Old Man«, uraufgeführt wurde, bestimmte Vaughan Williams die britische Szene: eine Autorität, ja eine Institution, ein wortgewaltiger Lehrer, Redner, Vortragsreisender, Kolumnist – und vor allem der wegweisende englische Symphoniker neben und nach Elgar. Neun Symphonien komponierte er im Laufe der Jahrzehnte, ausgerechnet neun, die magische, legendenumrankte, abergläubisch gefürchtete Zahl bezüglich der Symphonien seit Beethovens und Bruckners Tagen!
Vaughan Williams studierte in London bei Hubert Parry, in Berlin bei Max Bruch und in Paris bei Maurice Ravel; er spielte Violine und Viola, gründete einen Chor in Cambridge, wirkte als Organist an der Kirche St. Barnabas im Londoner Stadtteil South Lambeth und wurde sogar von der Church of England zum Herausgeber eines neuen Gesangbuchs berufen, The English Hymnal; und er vertiefte sich in die Geheimnisse der englischen Vokalpolyfonie aus der goldenen Tudor-Zeit.
Nicht zuletzt unternahm Vaughan Williams (wie Bartók und Kodály in Ungarn) sammelwütige Forschungsreisen ins eigene Land, er wanderte buchstäblich querfeldein durch Norfolk, Essex und Sussex, um die schwindenden Traditionen des English Folk Song an Ort und Stelle aufzuspüren, Lieder zu hören, aufzuzeichnen und sie systematisch zu veröffentlichen: Hunderte von Liedern.
»Ich glaube, dass wir von den Erfindern dieser Volksmusik eine Lektion lernen können«, war Vaughan Williams überzeugt. »Warum dachten sie sich diese Volkslieder aus und sangen sie? Nicht weil sie etwas Neues schaffen wollten, nicht weil sie ein Unterhaltungsprogramm zusammenstellen wollten, um die Schulden für die Orgel zu bezahlen, und auch nicht, weil ein Festival anstand, bei dem jedermann erschien. Der Grund, weshalb diese frühen Musiker sangen, spielten, sich etwas ausdachten und komponierten, war einfach und allein, dass sie es wollten, und ich denke, dass die Lektion, die wir davon lernen können, die der Aufrichtigkeit ist.«
Vor 150 Jahren, am 12. Oktober 1872, wurde Ralph Vaughan Williams in Down Ampney in der Grafschaft Gloucestershire geboren. Die Berliner Philharmoniker feiern seinen sonst hierzulande wenig beachteten Geburtstag, indem sie gemeinsam mit zwei Engländern, dem Tenor Andrew Staples und dem Dirigenten Daniel Harding – und zum überhaupt ersten Mal in ihrer Geschichte – On Wenlock Edge aufführen, ein frühes Meisterwerk des Komponisten aus dem Jahr 1909.
Diese Sammlung lässt sich nicht unter einem Begriff zusammenfassen, aber gerade darin liegt ihr Reiz und ihr Faszinosum, in ihrer Vieldeutigkeit. Auf den ersten Blick handelt es sich um sechs Lieder oder einen Liederkreis nach Gedichten aus dem zeitgenössischen Lyrikband A Shropshire Lad (»Ein Junge aus Shropshire«). Der Dichter und Altphilologe Alfred Edward Housman schrieb diese ebenso kunstvolle wie volkstümliche, hermetische wie herzergreifende Poesie an der Wende der Romantik zur Moderne.
Aber die sechs Lieder, die Vaughan Williams komponierte – ursprünglich für Tenor, Klavier und Streichquartett, erst Jahre später für Orchester – weisen weit über eine Vokalkollektion in der Nachfolge des 19. Jahrhunderts hinaus. Sie kreisen um die junge Liebe und den frühen Tod – ein Lied wagt als Dialog sogar die Zwiesprache mit einem Toten –, sie erschließen einen langen inneren Monolog, dem die Landschaftsbilder und das lautmalerische, teils impressionistische Spiel des Ensembles als Spiegel dienen, nicht als Außenwelt. Das Heulen des Windes, das Läuten der Glocken, alles verwandelt sich in eine Spurensuche der menschlichen Psyche, in eine Traumsphäre, eine Reise ins Unbewusste. Doch da sich Vaughan Williams von den Tonfällen und Tanzrhythmen des English Folk Song leiten lässt, da er selbst »Volkslieder ausgedacht« hat, klingt On Wenlock Edge schon beim ersten Hören vertraut in unseren Ohren: Ein Gefühl von Natürlichkeit, ja mehr noch, von Freundschaft spricht aus diesen Liedern.
Durch die Todesnähe der Dichtung, die Melancholie der Musik, die Klage um viel zu früh aus dem Leben gerissene junge Menschen wurde On Wenlock Edge am Vorabend des Ersten Weltkriegs obendrein noch zur Trauermusik, zu einem Abgesang und Menetekel, einer schwarzen und doch so menschenfreundlichen Prophetie.
Ralph Vaughan Williams hatte seine Lektion in Aufrichtigkeit gelernt: »Der Komponist darf sich nicht abschotten und über Kunst nachdenken; er muss mit seinen Mitmenschen leben und seine Musik zu einem Ausdruck des ganzen Lebens der Gemeinschaft werden lassen – wenn wir nach Kunst suchen, werden wir sie nicht finden.«
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