Anfang Dezember 2023 gab Robin Ticciati sein lang erwartetes Debüt bei den Berliner Philharmonikern. Für den Chefdirigenten des benachbarten Deutschen Symphonie-Orchesters ist Idealismus ein wichtiger Faktor bei der Arbeit. Alle sollen »so spielen, als ob es in dem Moment das Wichtigste im Leben wäre.« Ein Porträt.
Es ist noch gar nicht so lange her, da sah sich Robin Ticciati mit einem möglichen Karriereende konfrontiert. 2016 erlitt er einen Bandscheibenvorfall. Rücken-OP. Auszeit. Fast ein Jahr lang war er raus aus dem Geschäft: »Da war dieses Gefühl, vielleicht nie wieder dirigieren zu können.« Ein Gefühl, das einem alle Kraft raube und einen an nichts anderes mehr denken lasse. Prägend war ein Moment, als Ticciati langgestreckt auf dem Fußboden eines Hotels lag. Er hörte das Andante aus Mozarts D-Dur-Violinkonzert, »und mir rollten die Tränen übers Gesicht«. Das war eine jener Situationen, in der ihm klar wurde, wie eng Musik zusammenhängt mit »der Art, wie dein Körper und dein Geist funktionieren«. Eine fast schon unerbittliche Allianz, die aber auch große Glücksgefühle auslösen kann. Das Karriereende blieb glücklicherweise aus.
Es sind oft kleine Momente mit Langzeitwirkung, die Ticciatis Leben geprägt haben. Als Jugendlicher spielte er als zweiter Geiger im National Youth Orchestra of Great Britain und probte die erste Symphonie von Jean Sibelius. Vorn am Pult stand ein Mann, der für seine ruhige, mitunter gütige Art bekannt war: Colin Davis. »Ich war völlig überwältigt von seiner Präsenz. Er spielte im Geiste praktisch jedes Instrument vom Dirigentenpult.«
So keimte in Ticciati der dringliche Wunsch: »Das will ich auch!« Ausgebildet an Geige, Klavier und Schlagzeug, trug die Kehrtwende zum Dirigieren schnell Früchte. Robin Ticciati leitete schon als Student einen Chor an der St. Paul’s School in London. Dort war er 1983 zur Welt gekommen, als Engländer mit italienischen Vorfahren: Der Opa stammte aus Rom, er war Komponist und Arrangeur. »Die italienische Kultur steckt noch irgendwie in mir.«
Kometenhaft schnell erfolgte Ticciatis Aufstieg in die musikalische Top-Liga. 2005 dirigierte er erstmals die Filarmonica della Scala, mit gerade einmal 22 Jahren – der jüngste Dirigent in der langen Geschichte des Mailänder Traditionshauses. Schon ein Jahr später folgte das Debüt bei den Salzburger Festspielen und in der Folge, wie im Domino-Effekt, mehrere Fest-Engagements: Gävle Symfoniorkester, Scottish Chamber Orchestra, parallel dazu Erster Gastdirigent bei den Bamberger Symphonikern, 2014 dann Musikdirektor des Opernfestivals von Glyndebourne.
Betrachtet man Ticciati, wenn er vor einem Orchester steht, so fällt seine vergleichsweise entspannte Gestik auf. Ein Strömen geht von seinen Bewegungen aus, etwas Natürliches. Nicht von ungefähr erinnert die Körpersprache ein wenig an Claudio Abbado: »Seine Art zu dirigieren hatte vor allem gegen Ende seines Lebens etwas sehr Spirituelles«, gibt Ticciati zu. »Seine Bewegungen waren fließend und schön anzusehen. Er besaß die Gabe, Orchester dazu zu bringen, für ihn ihr Bestes zu geben.«
Gelegentlich und ein wenig vordergründig wird Ticciati auch mit Abbados Nachfolger bei den Berliner Philharmonikern verglichen, mit Simon Rattle – der Frisur wegen. Doch Locken hin oder her, auch sein britischer Landsmann zählt zu Ticciatis Förderern. Rattle meinte einmal vielsagend: »Robin is a mensch.«
Nach Berlin kam Ticciati 2014, als er erstmals das Deutsche Symphonie-Orchester mit Bruckners vierter Symphonie dirigierte. Liebe auf den ersten Blick? »Als ich in die erste Probe kam und meinen Taktstock hob«, so Ticciati rückblickend in einem Interview, »spürte ich, dass hier eine Gruppe von Menschen war, die genau wissen wollte, was ich machen möchte.« Die Mitglieder seien »offen, emotional und auch ausgelassen in der Art, wie sie auf die Musik reagieren«. Ein gutes Jahr später unterschrieb er einen Vertrag, 2017 begann schließlich seine Amtszeit als neuer Chefdirigent.
Der scheinbar ewige Londoner nahm eine Wohnung im Prenzlauer Berg. Ticciati wusste schnell um eines der Probleme des Orchesters: dass einige hochtalentierte Musikerinnen und Musiker nicht lange bleiben, weil das DSO ihnen als willkommenes Sprungbrett für vermeintlich höhere Aufgaben dient. Doch in diesem Hunger nach Mehr erkennt Ticciati auch eine Tugend: »Teil ihrer DNA ist diese Wildheit, die sie, wenn sie eine Herausforderung sehen, sagen lässt: ›Ja, ja, bitte.‹ Und das ist ein Charakterzug, der typisch ist für Berlin.«
Bereits 2020 hatte Ticciati seinen Vertrag beim DSO vorzeitig verlängert, fünf Jahre sollten es werden, bis 2027. Doch in diesem Frühjahr machte dann die Nachricht die Runde: Der Chef geht von Bord, und zwar schon im Sommer 2025. Mangelnder Erfolg ist sicher nicht die Ursache, denn die Zusammenarbeit hat das Orchester verändert, vor allem den Klang, den Ticciati »um wohlige Celsiusgrade aufgeheizt« hat, wie es in einem Fachmagazin heißt: »Man tönt natürlicher, wärmer. Und dennoch wunderbar transparent.«
Dabei möchte Ticciati seinen Musikerinnen und Musikern nie etwas aufdrücken, sein Stil ist mehr darauf ausgerichtet, dass sie einander zuhören. Dabei bedarf es nicht immer vieler Worte: »Gelegentlich ist es ein Lächeln, mit dem man die besten Probenergebnisse erzielt.« Oder ein Blick. Oder nach der Probe ein kurzer Plausch, eine flüchtige Umarmung des Dankes. »Ich möchte die Musikerinnen und Musiker mehr und mehr motivieren, sich einzubringen.« Alle sollen »so spielen, als ob es in dem Moment das Wichtigste im Leben wäre«.
Jede und jeder möchte »gepusht werden«, um eine Vision von dem zu bekommen, was sie da gerade machen. Gleichzeitig darf kein Zweifel aufkommen, dass das, was der Dirigent für den bestmöglichen Interpretationsweg hält, auch für das Orchester der bestmögliche ist. Man müsse als Dirigent ein Bewusstsein dafür haben, dass Idealismus eine der wichtigsten Tugenden ist. Nur ja keine Routine. Volle Intensität im Jetzt. Das ist Ticciatis Credo.
Der Furchtlose
Im April 2023 gab der Finne Klaus Mäkelä sein Debüt bei den Berliner Philharmonikern mit Werken von Tschaikowsky und Schostakowitsch.
Der Symphoniker des Films
Die Geschichte der Filmmusik wäre eine andere ohne ihn: John Williams.
»Es ist nie genug, es kann nicht zu viel sein«
Die Dirigentin und Cembalistin Emmanuelle Haïm gehört zu den bedeutendsten Protagonistinnen der Alten Musik. Porträt einer Barock-Ikone, die immer wieder Gast bei der Berliner Philharmonikern ist.