Wenn wir heute von einer globalisierten Welt sprechen, darf man nicht denken, dass die Menschen früherer Zeiten immer in ihrem angestammten Umfeld verharrt hätten. Die russischen Komponisten des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts jedenfalls suchten den Austausch mit der westlichen Musikwelt. Mitunter auf der Flucht vor der heraufdämmernden Revolution, vor allem aber getrieben von Neugier und der Lust am interkulturellen Dialog.
Fast wirkt es, als sei der Hausherr gerade nur kurz außer Haus. Die russische Zeitung liegt noch aufgeschlagen auf dem Tisch, der Hocker steht vorgeschoben am schwarzen Flügel, einem Steinway, Geschenk des Hauses … So zeigt es ein Foto. Doch der Hausherr wird nicht wieder zurückkehren. Es ist das Jahr 1939. Kriegsbedingt verlässt Sergej Rachmaninow Europa und geht in die USA. Vier Jahre später wird seine Lebensreise in Beverly Hills zu Ende gehen.
Hätte es bereits im 19. Jahrhundert GPS-Bewegungsprofile gegeben, würde man vermehrt Wanderungen von Ost- nach West-Europa feststellen können. Etwa bei Frédéric Chopin, der nach Anläufen in Wien und seinem Abschied aus Warschau schließlich Paris zu seiner Wahlheimat erkor.
Michael Glinka, der gerne als Vater der russischen klassischen Musik bezeichnet wird, hatte drei Jahre italienische Luft geatmet, Bellini und Donizetti kennengelernt und anschließend bei dem Berliner Kontrapunktiker Siegfried Dehn studiert, bevor er nach Russland zurückkehrte. Mitte der 1840er Jahre unternahm Glinka ausgedehnte Reisen nach Spanien und komponierte unter diesem Einfluss zwei Spanische Ouvertüren. Einen Hang zu westeuropäischen Einflüssen findet man auch bei Peter Tschaikowsky – nur dass diese bei ihm, wie bei Glinka, nie zum endgültigen Bruch mit der russischen Heimat führte.
Erst gegen Ende des 19. und im frühen 20. Jahrhundert setzt eine vermehrte Emigration russischer Musiker Richtung Westen ein, unter wechselnden politischen Gegebenheiten und andauernd bis in die Gegenwart, von Strawinsky über Rachmaninow bis Alfred Schnittke und Sofia Gubaidulina. Die Gründe sind vielschichtig, sie reichen von den staatlichen Repressionen der Zaren- und Stalinzeit bis zu wirtschaftlichen Gründen. Das betrifft nicht nur Komponisten der ersten Reihe, sondern auch Musiker wie Nikolaj Medtner, Paul Juon (Russe mit Schweizer Wurzeln) oder Wladimir Iwanowitsch Rebikow, der schließlich, nach Jahren in Westeuropa, nach Moskau zurückkehrt.
Die Achse Russland-Westeuropa gewinnt an Stabilität, als Sergej Diaghilew ab 1904 Ausstellungen mit alter und neuer russischer Kunst in Paris organisiert. Ab 1907 folgen Konzerte mit russischem Schwerpunkt. Noch im selben Jahr moderiert er zwei Konzerte mit Nikolaj Rimsky-Korsakow als Dirigent, der bereits bei der Weltausstellung 1899 erfolgreich in Paris gastiert hatte.
Anschließend wechselt Diaghilew das Berufsfeld: Er wird Impresario der von ihm gegründeten Ballets Russes. Er verpflichtet erstmals den Komponisten Igor Strawinsky, der die Musik zum Ballett Der Feuervogel schreiben soll. Strawinsky empfindet Sankt Petersburg, wo er lebt, als eng. Er ist froh, Russland zu entfliehen und sich auf internationalem Parkett präsentieren zu können.
Paris wird so etwas wie ein Schmelztiegel für Musiker aus Osteuropa. Unter der Bezeichnung École de Paris kommt es zum freundschaftlichen Zusammenschluss von Komponisten aus fünf Ländern, darunter Bohuslav Martinů aus Tschechien, Alexandre Tansman aus Polen und Alexander Nikolajewitsch Tscherepnin aus Russland. Zwischen den beiden Weltkriegen leben vermehrt polnische Komponisten in Paris, darunter Szymon Laks. Sie bilden die Gruppe der Jeunes musiciens polonais.
Die USA rücken ebenfalls in den Blick. Als Sergej Prokofjew 1918 seine russische Heimat verlässt und in die Neue Welt ausreist, ist er kein politischer Flüchtling, sondern er will schlicht sein Glück finden. Die Jahre in den Vereinigten Staaten enden in einem finanziellen (und künstlerischen) Desaster, und so kehrt er 1920 nach Europa zurück – nach Frankreich, wo er, bis auf ein Intermezzo 1922/23 im bayerischen Ettal, bis in die 1930er Jahre bleibt. 1936 kehrt er endgültig in die Sowjetunion zurück.
Auch innerhalb Westeuropas verschieben sich die Gewichte. Gelten Mitte des 19. Jahrhunderts Wien und Leipzig als musikalische Hochburgen – vor allem auch in der Ausbildung –, so gewinnt Frankreich (und damit Paris) ab den 1890er Jahren eine immer größere Bedeutung. Französische Komponisten wie Gabriel Fauré, César Franck, Vincent d’Indy oder Ernest Chauson entwickeln Alternativen zu einer deutschgeprägten Musiktradition, hin zu einem eigenen Nationalstil.
In diesem Punkt treffen vor allen die russischen Komponisten in Paris auf Wahlverwandte, schließlich haben sie gerade erst den Kampf um die Entwicklung einer eigenen, russischen Nationalmusik hinter sich. So entwickelt sich aus diesem kulturellen »Nation-Building« ein zunehmend internationales Amalgam, das die Tür zu völlig neuartigen ästhetischen Entwicklungen öffnet.