Die traditionelle Kunst seiner Heimat fand Toshio Hosokawa zunächst ziemlich fade. Inzwischen sind ihm seine Wurzeln Inspirationsquelle. Die Berliner Philharmoniker spielten im März 2023 die Uraufführung seines Konzerts für Violine und Orchester »Prayer«. Eine Begegnung mit einem faszinierenden Künstler.
»Einst habe ich einen bedeutenden Zen-Altmeister getroffen, der jeden Tag Kalligrafien gestaltete. Dieser sagte: ›Die Kalligrafie entsteht nicht so, dass man gleich auf dem Papier anfängt zu malen. Stattdessen bestimmt man einen Punkt im leeren Raum und von diesem Punkt aus beginnt man zu malen und kehrt schließlich zu diesem Punkt zurück. Diese kreisend-lineare Bewegung ist die Kalligrafie.‹ Diese Idee hat auf meine Musik grundlegenden Einfluss ausgeübt.«
Die Kalligrafie ist ein zentraler Bezugspunkt im Denken des japanischen Komponisten Toshio Hosokawa, darauf hat er immer wieder hingewiesen. Er definiert Musik ganz explizit als »eine Kalligrafie der Klänge, die auf der Leinwand des Schweigens gemalt wird«. Noch etwas radikaler die Formulierung, Komponieren sei eine Handlung, die man ausführe, »um die Intensität des Schweigens zu vertiefen, nicht die Intensität der Klänge«.
Heute speisen sich die Klangvorstellungen Hosokawas im Wesentlichen aus drei Quellen: der westlichen Avantgarde, wie sie ihm seine Kompositionslehrer in Berlin und Freiburg vermittelten, der traditionellen japanischen Ästhetik inklusive der genuin japanischen Instrumente und schließlich den Klängen der Natur. Die Nachahmung der Natur ist eines der Grundprinzipien aller japanischen Kunst und auch Hosokawa erklärt: »Ideale Musik ist für mich wie Naturgeräusch.«
1955 in Hiroshima geboren, verlief Hosokawas Lebensweg zunächst parallel zur Modernisierung, Verwestlichung und Industrialisierung seiner Heimat. Die Fortschrittsgläubigkeit der japanischen Gesellschaft führte dazu, dass die traditionellen Künste immer weiter in den Hintergrund gedrängt wurden. Das erlebte auch Hosokawa, dessen Familie noch stark von den traditionellen japanischen Künsten geprägt war: der Kunst des Blumensteckens (Ikebana), in der es vor allem sein Großvater zu wahrer Meisterschaft gebracht hatte, der Teezeremonie und der überlieferten japanischen Musik.
Doch der jugendliche Hosokawa brach zunächst mit dieser Tradition: »Damals, in meiner Jugend, war für mich die überlieferte japanische Musik, die mein Großvater und meine Mutter so geliebt haben, nichts anderes als fade und eintönig.
Ich war viel mehr vom westlichen Komponieren fasziniert und beeindruckt, vor allem von Beethoven, Mozart und Schubert, später auch von der europäischen Moderne eines Strawinsky, Bartók oder Debussy. In ihren Werken spürte ich etwas erregend Gegenwärtiges, Neues und Kraftvolles.«
Folgerichtig ging Hosokawa zum Musikstudium nach Europa. Zunächst nach Berlin, wo er bei Isang Yun Unterricht nahm und später nach Freiburg zu Klaus Huber.
Und erst dort, in der Fremde, entdeckte er seine eigenen musikalischen Wurzeln: »Damals veranstaltete man in Berlin ein Festival, bei dem einerseits Musik verschiedener Völker und Kulturen, andererseits moderne Musik vorgestellt wurde, und ich habe dort zum ersten Mal die traditionelle japanische Musik als ›Musik‹ gehört, angerührt von der Eigentümlichkeit und Schönheit dieser Klangwelt.« Seit diesem Initialerlebnis versucht Hosokawa in seinen Werken die avancierte Sprache der westlichen Avantgarde und die Klangwelt des antiken Japans zu einer Synthese zu bringen.
Zu den zentralen Grunderfahrungen der asiatischen Kunst zählt die Vergänglichkeit. Das Sein wird als Werden und Vergehen definiert, die Gegenwart als die Schnittmenge aus Ahnung und Erinnerung. »Wir Japaner«, so Hosokawa, »empfinden die Flüchtigkeit des Vergehenden als schön. Deshalb lieben wir ›Sakura‹, die Kirschblüte im Frühling. Doie Blütezeit ist ganz kurz. Längstens vier bis fünf Tage blühen sie, dann fallen die Blüten. Wir empfinden gerade diesen Vorgang des Herabfallens als etwas Schönes. Denn auch unser Leben währt nicht ewig. Es blüht kurz, um dann zu vergehen, und gerade aus einem solchen Bewusstsein der Flüchtigkeit heraus empfinden wir es als kostbar.«
Diese Sicht auf die Dinge ist ein zentraler Bezugspunkt im Schaffen Hosokawas: »Wir hören die einzelnen Töne und nehmen zugleich mit Wertschätzung den Prozess wahr, wie sie geboren werden und vergehen, sozusagen eine tönend in sich belebte Landschaft des Werdens.« Entsprechend viel Aufmerksamkeit wird dem einzelnen Ton oder Klang entgegengebracht: »Meine Kompositionsweise basiert stets darauf, einen bestimmten Klang in seiner ganzen Tiefe wahrzunehmen, sich in diesen Klang hineinzubegeben und seinen inneren Klängen zu lauschen.«
Obwohl sich das Leben Toshio Hosokawas, dessen Œuvre nahezu alle Gattungen umfasst und der für sein Schaffen vielfach ausgezeichnet wurde, zumeist in den großen Metropolen Japans und Europas abspielt, ist er im Grunde ein zutiefst naturverbundener Mensch.
Seine besondere Sensibilität für die Stille, für leise und langsame Entwicklungen ist motiviert durch seine Suche nach dem Ursprung und seine Identifikation mit einem anderen Japan: »Japan ist sehr vielseitig. Einerseits Stress pur in den Metropolen und andererseits gibt es außerhalb der großen Städte noch Ruhe, Natur und Einsamkeit. Das ist mein Japan, das sind meine Wurzeln.«
Hosokawas musikalische Vorstellungen überschneiden sich in vielen Punkten mit dem Ideal der Shakuhachi-Musik. Dort geht es vor allem darum, den Klang des Windes, der einen Bambushain durchweht, darzustellen – als Symbol für die Verbindung des Menschen mit der Natur. Komponieren versteht Hosokawa folgerichtig als »Handeln, das sich stets im Einklang mit der Natur vollzieht«.
Dabei ist ihm jedoch immer schmerzhaft bewusst, wie bedroht die Natur in unserer Gegenwart ist. So setzt er sich in seiner 2016 entstandenen Oper Stilles Meer mit der Naturkatastrophe von Fukushima auseinander. »Ich war selbst in Fukushima, ich habe die Städte gesehen, in denen niemand mehr wohnt. Es war schrecklich. Es schien mir wie unsere Zukunft: das Ende der Welt. Ich bin in Hiroshima geboren. Vor meiner Geburt hat diese Stadt eine große Katastrophe erlebt. Und dann Fukushima … Das war für mich ein Schock und ich habe mich seitdem viel mit dem Thema auseinandergesetzt. Es gibt in der Oper eine Szene, in der die Menschen mit Laternen ans Meer gehen und die Lichter dem Meer zurückgeben. In diesem Ritual drückt sich aus, dass wir glauben, dass die Menschenseele aus dem Meer kommt und nach dem Tod dorthin zurückkehrt. Aber dieses Meer ist nicht mehr sauber. Wo also können wir hingehen?«
Toshio Hosokawa ist der Spagat gelungen, eine avancierte westliche Tonsprache mit seinen eigenen musikalischen Wurzeln aus einer ganz anderen Kultur zu verbinden. »Die Blüte des Lotos«, schreibt er, »versinnbildlicht die Öffnung des Geistes, das Erwachen des Selbst und das tiefe Verlangen nach Erleuchtung und Schönheit. Die Blume und ich sind eins – das Lied der Blume ist mein Lied. Und das Erblühen der Blume stellt meine Entblätterung, meine Selbstfindung dar.« Diese Selbstfindung meint keine subjektive, ichbezogene Nabelschau.
Komponieren ist für Hosokawa nicht das Darstellen eigener Ausdrucks- oder Gefühlswelten. Mit der blauen Blume der Romantik hat Hosokawas Lotosblüte nichts gemein. Doch seine musikalische Sprache ist so bildhaft und universell, dass sie trotz der engen Bezüge zur Ästhetik Asiens überall auf der Welt verstanden wird. Es sind Klänge, die atmen, wie mit einem Tuschpinsel gezeichnet: zart, aber hochkonzentriert und energiegeladen.
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